Tarifpolitik der Vernunft
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Der Aufschwung geht an den Menschen vorbei, Lokomotivführer proben den Aufstand, ältere Arbeitslose bekommen länger Arbeitslosengeld, wer volle Zeit arbeitet soll auch davon leben können: deshalb Mindestlohn. Gewerkschaft Verdi fordert 8% mehr Löhne für den Öffentlichen Dienst. Und politisch rutscht Deutschland nach links in Hessen und in vorausseilendem Gehorsam auch in Niedersachsen. Dann melden sich einige zu Wort zu diesen Themen, die etwas zu sagen haben, und keiner hört sie. Der Zeitgeist hat die Ohren verschlossen, tötete Aufmerksamkeit ab.
Zur Anhörung im Bundestag vor der Verlängerung für die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld für Ältere meldet sich die Bundesagentur für Arbeit, immerhin eine staatliche Einrichtung (unter Mitwirkung der Tarifparteien) und stellt fest: Diese Regelung verschlechtert die Beschäftigungschancen für ältere Arbeitsnehmer. Ungerührt davon entscheiden die Bundestagsabgeordneten gegen Vorfahrt für Arbeit. Auf gute Wirkung, so scheint es, kommt es in unserem Land nicht mehr an. Was zählt ist gute Gesinnung. Vor allem, wenn medienwirksam formuliert und inszeniert. Da meldet sich Herr Burghard, ein IG-Metall Verantwortlicher aus Nordrhein-Westfalen zum Mindestlohn zu Wort. Er sagt, es entspreche nicht der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland, wenn Herr Scholz die Löhne in den einzelnen Branchen durch Mindestlöhne festlege. Die Debatte geht einfach weiter. Die Linke treibt, die SPD sekundiert, die CDU verliert auch in dieser Frage ihren Anker. Das DIW stellt fest, dass gerade einmal 7 Prozent der Beschäftigten weniger als 7,50 Euro/Stunde Lohn erhalten und die meisten Geringverdienenden, Rentner, Schüler und Arbeitslose seien, die nebenher verdienen. Also, das Phänomen der voll Arbeitenden, die davon nicht leben können, wird weit überschätzt. Armut trotz Arbeit ist keine Massenerscheinung in Deutschland, wie die Debatte suggeriert. Was wird durch Mindestlöhne erreicht? Sie würden die Beschäftigungschancen vieler Menschen vor allem in Ostdeutschland – schon heute besonders von Arbeitslosigkeit geplagt – noch weiter vermindern. Aber mahnende Stimmen werden einfach ignoriert. So muss wohl die nächste Aktion der Reformrückbau-Koalition einkalkuliert werden. Mindestlöhne ante portas. In Deutschland aufgezogene Schweine werden wohl demnächst in Polen geschlachtet und kommen als Wurst verarbeitet zurück. Und Schwarzarbeit wird wieder mehr blühen.
Ja und in diesem Klima jetzt die Lohnrunde 2008. Sie begann faktisch mit den Lokomotivführern. Sie geht nun mit lange nicht mehr gehörten Lohnforderungen in die entscheidende Runde. Kaum jemand ist da, der sich an die Kluncker-Runde während der ersten Ölkrise erinnert. Die damalige Lohnrunde war der Sargnagel für den deutschen Arbeitsmarkt. Sie trug dazu bei, dass aus dem Land der Vollbeschäftigung das Land mit scheinbar unaufhaltsam steigender Arbeitslosigkeit wurde. 1975 gab es zum ersten Mal über eine Million Arbeitslose. Und erneut gibt es Stimmen – denen Motivverdächtigung nicht entgegenfliegt -, die zum Maßhalten aufrufen. Kurt Beck sagt, dass es beim Öffentlichen Dienst nicht viel zu verteilen gäbe. Und keiner höret die Signale. Lafontaine stattdessen, der der Stärkung der Kaufkraft das Wort redet, er trifft die Volksseele, er treibt die Debatte vor sich her! Also bald auch an dieser Front ein Dammbruch, um gute Gesinnung zu beweisen für die anstehenden Wahlen? Und dann unterbleibt das Einstellen von zusätzlichen Lehrern, Richtern und Polizisten – gestern gerade noch vehement gefordert und für notwendig erklärt, da das Geld ja weg ist wegen der kräftigen Lohnerhöhungen für die bereits Beschäftigten.
Was ist nun die richtige Tarifpolitik? Und für wen genau haben wir die Entscheidungen zu kalibrieren? In Deutschland neigt man in der Debatte immer noch zu Einheitslösungen. Und die faire Lösung ist für viele ein generell kräftiger Lohnanstieg, der die Inflation ausgleicht und die Steigerung der Produktivität an die Arbeitnehmer weitergibt. Es gibt Orientierungen, die noch schädlicher sein können als diese - etwa, wenn man mehr Reallohnsteigerung durchsetzt als die Produktivitätssteigerung beträgt. Aber auch an der obigen herkömmlichen Lohnformel gilt es Kritik anzubringen. Wir haben nicht ein generelles Problem der Arbeitslosigkeit. Im Gegenteil: Wir haben Piloten-, Lokomotivführer-, und Ingenieurmangel. Mit begrenzten Lohnsteigerungen für diese Gruppen bleibt es beim Mangel an Fachkräften und sind diese nicht zu Mehrleistungen bereit. Ein Einheitsaufschlag hat deshalb nichts mit Markt zu tun. Bei knappen Schlüsselqualifikationen sind kräftige Lohnsteigerungen die einzige Methode, um mehr Wachstum für die Volkswirtschaft zu schaffen. Wir haben aber Arbeitslosigkeit in bestimmten Regionen und für bestimmte, oft geringere Qualifikationen. Dort sind Tarifsteigerungen gemäß der allgemeinen Formel Inflation + Produktivität wiederum nicht angezeigt, weil sonst das Problem der hohen Arbeitslosigkeit fortbesteht. Differenzierung ist die wichtigste Planke der Lohnrunde, aber gleichzeitig – siehe Gerechtigkeitsdebatte – die am wenigsten verstandene und die überhaupt nicht akzeptierte. So etwa sind Sockelbeträge bei der Lohnerhöhung wieder „in“. Das Land strebt auf Abschlüsse zu, die sich zudem an der guten Wirtschaftsentwicklung der letzten beiden Jahre orientieren. Die Wolken am Konjunkturhorizont, die einen lang anhaltenden weltweiten Abschwung – wahrscheinlich mit einer jahrelangen kräftigen Überbewertung des Euro – erwarten lassen, bleiben bei den Überlegungen für den Lohnabschluss 2008 vor der Tür. Damit läuft der Beschäftigungsanstieg 2008 aus und 2009 – rechtzeitig zur Bundestagswahl – wird die Beschäftigung wieder sinken. Und so treten gut gesinnte Politiker und Tarifparteien das Erwerbsbeteiligungsinteresse der ohnehin Benachteiligten mit Füßen.
Autor: Prof. Dr. Norbert Walter
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