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10:30 Uhr, 21.08.2001

Pulverfaß Argentinien - Teil I

Expertenkommentar aus dem Research-Channel.de

Lateinamerika I: Argentinien - am Ende oder am Neuanfang?

Die Ruhe nach dem Sturm - so in etwa könnte man die derzeitige Lage im krisengeschüttelten Argentinien wohl beschreiben. Die panikartige Ausverkaufswelle ist jedenfalls erst einmal gestoppt - sowohl der Aktienmarkt in Buenos Aires als auch die Kurse argentinischer Eurobonds haben sich nach den kräftigen Kursstürzen von Anfang Juli erst einmal stabilisiert. Wenngleich auf niedrigem Niveau - noch ist das Land weit davon entfernt, das mit der Krise zerstörte Vertrauen wieder zurückzugewinnen. Doch der Weg dorthin ist bereitet: Mit dem sogenannten "Null-Defizit-Programm" zeigt sich die argentinische Regierung fest entschlossen, den Finanzmärkten zu signalisieren: "Ok, wenn ihr uns kein frisches Geld mehr zur Verfügung stellt, dann geben wir halt auch nichts mehr aus". Soll heißen: Solange der Eurobondmarkt Argentinien zur Neuverschuldung verschlossen bleibt, will Argentinien auch keine neuen Schulden mehr aufnehmen. An der ächzenden Last des bereits bestehenden Schuldenberges von 147 Mrd. Dollar ändert das freilich nichts. Zwar hat Argentinien mit der im Mai erfolgten spektakulären Umschuldungsaktion im Umfang von immerhin rund 30 Mrd. Dollar den größten Teil der kurzfristig fälligen Anleihen "weitergerollt", wie man am Kreditmarkt sagt - also in länger laufende Papiere umgeschuldet. Aber geschah diese freiwillige Umstrukturierungsaktion zu horrenden Zinssätzen von 15 Prozent für die Dollarpapiere. Damals galt dies schon als echter Krisenzins - aber angesichts der heutigen Zinsniveaus für argentinische Schuldtitel war es noch moderat.

Nichtsdestotrotz hat diese Umschuldung die Zinslast Argentiniens noch vergrößert. Das "Null-Defizit-Programm" bedeutet daher keinesfalls, dass Argentinien nun kein Geld aus dem Ausland mehr braucht. Die Zinslasten sind immer noch erdrückend. Doch zumindest für das laufende und wohl auch fürs nächste Jahr scheint die Bedienung argentinischer Anleihen vorerst gesichert zu sein. Immerhin hat Argentinien insgesamt ein Hilfsprogramm über 40 Mrd. Dollar von der internationalen Gemeinschaft zugesagt bekommen, wovon 13,4 Mrd. Dollar vom Internationalen Währungsfonds stammen, der bislang erst sechs Mrd. Dollar ausgezahlt hat. Und hat sich der IWF für den Rest bis vor kurzem noch zurückhaltend gezeigt, so bezieht der Fonds jetzt eindeutig Position: Mit einem überraschenden Vorziehen der nächsten ausstehenden Kreditlinie für Argentinien, neuen Hilfen für die Türkei und vor allem einem 15-Mrd-Dollar-Kreditrahmen für Argentiniens Nachbarland Brasilien macht der IWF deutlich, dass er eine neue "Asienkrise", die diesmal von Südamerika ausgehen würde, um jeden Preis verhindern will. Der Preis für den IWF - und auch der Grund für seine anfängliche Zurückhaltung (bis vor kurzem sah der IWF offiziell noch keinen Grund, über die bereits zugesagte Hilfe hinauszugehen): Er wird sich wieder dem Vorwurf ausgesetzt sehen, Milliarden an Steuergeldern in die maroden Schwellenländer zu pumpen, nur um den gierigen Auslandsgläubigern, die hohe Zinsen fordern, aber bitteschön kein Risiko tragen wollen, wieder mal aus der Patsche zu helfen. Aber das Verhalten des IWF in der Argentinienkrise lässt sich auch aus einem anderen Blickwinkel erklären - Argentinien gilt seit den neunziger Jahren nämlich als "Musterland": Nicht nur hat das Pampaland so ziemlich alles an typischen "neoliberalen" Reformen mitgemacht, was IWF und internationale Professorengemeinde von den Schwellenländern immer wieder gefordert haben. Sondern das Rinderparadies versuchte in den letzten Jahren auch gezielt, eine Vorreiterrolle bei den vom IWF im Zuge der Reformdiskussion um die vielzitierte "neue Architektur" des globalen Finanzsystems angeregten Neuerungen zu spielen, indem Argentinien bei allen Innovationen ganz vorne mit dabei war. Zu nennen wären hier z. B. die sogenannten "PINs" - "Public Information Notices", mit denen die Finanzgemeinde bessere und zeitnähere Informationen über Wirtschaft und Finanzen der Schuldnerländer bekommen sollen, die regelmäßige Veröffentlichung wichtiger Kennzahlen wie z. B. der Währungsreserven über die Internetseiten des IWF und die Emission eines neuartigen Eurobonds am internationalen Kapitalmarkt mit der IWF-Schwesterorganisation Weltbank als Bürgen, der die Rückzahlung garantiert. All das bedeutet, dass die "IFIs" - die "Internationalen Finanzorganisationen" um den IWF, die Weltbank und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) - Argentinien nicht fallen lassen können, ohne selbst mit ihren zahlreichen Reformansätzen der letzten Jahre unglaubwürdig zu werden. Und das würde die Existenz dieser Behörden selber in Gefahr bringen - gibt es doch seit Jahren auch Debatten darüber, einzelne Institutionen komplett aufzulösen oder zumindest miteinander zu verschmelzen und ist gerade der IWF diejenige Institution, für die es die lauthalsigsten Forderungen nach einer kompletten Abschaffung gibt. Um es mal so zu umschreiben: Als Bundeskanzler Schröder kurz nach seiner Wahl den angeschlagenen Baukonzern Philipp Holzmann mit Staatskrediten vor dem Bankrott rettete, titelte die konservative Presse: "Holzmann saniert Schröder" - als Anspielung auf die Tatsache, dass die spektakuläre Rettungsaktion der neuen Bundesregierung, die sich damals gerade im ersten großen Stimmungstief nach der Wahl befand, wieder neue Popularität verschaffte. In Analogie dazu könnte man im Falle Argentiniens daher auch sagen: "Argentinien rettet den IWF". Denn wenn Argentinien fällt, fällt auch die Glaubwürdigkeit der verzweifelten IWF-Versuche, mit seinen innovativen Ideen à la "PIN" sein eigenes Fortbestehen zu sichern und seine Daseinsberechtigung deutlich zu machen.

Aber zurück zu Argentinien: Vorreiter bei der Umsetzung klassischer neoliberaler Wirtschaftsreformen wie Privatisierungen und Deregulierungen zu sein und bei den zaghaften Reformschritten der globalen Finanzstruktur immer die Hand nach oben gerissen zu haben wenn es hieß "Freiwillige vor!" war eine clevere Strategie der Argentinier. So konnten sie sich das Image verschaffen, mehr oder weniger unschuldig in die derzeitige Misere geraten zu sein. Im Gegenteil: Sie hatten doch alles getan! In der Tat sind die Hauptgründe für Argentiniens traurige Lage nicht in Argentinien selber zu suchen, sondern vor allem in den USA: Der starke Dollar führte über die feste Währungsanbindung auch zu einem überbewerteten Peso, der nicht nur den Export abwürgte, sondern auch auf dem Binnenmarkt immer stärker zur Verdrängung heimischer Produkte durch ausländische Importware führte. Und das bis Anfang dieses Jahres noch hohe US-Zinsniveau führte durch die faktische Abwesenheit einer eigenständigen Zentralbank in Argentinien (eine Eigenart der sogenannten "Currency Boards", wie man die durch Devisenreserven gedeckte Eins-zu-Eins-Anbindung der eigenen an eine fremde Währung fachmännisch nennt) dazu, dass Argentiniens Wirtschaft trotz hartnäckiger Rezession das selbe Zinsniveau wie die USA hatten, wo Alan Greenspan mit einer Hochzinspolitik versuchte, der überschäumenden New Economy und vor allem der Blase an der Börse behutsam aber doch zielstrebig die Luft wegzunehmen. Für all das kann Argentinien nichts. Es war ein unglückliches Schicksal. Wer konnte 1991, als die Argentinier sich entschlossen, ihren Peso an den Dollar zu binden, schon damit rechnen, dass die USA fast exakt von diesem Datum an in eine historisch noch nie da gewesene Boomphase eintreten würden? Und als man die verhängnisvollen Folgen dieser Dollaranbindung zu spüren begann, war es schon zu spät. Die Kapitalmärkte hatten das Currency Board bereits akzeptiert - jetzt konnte man die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Dabei sah es zunächst ja gut aus: Die Inflation ging von 3.000 Prozent Ende der achtziger Jahre auf fast null Mitte der Neunziger zurück, und mit der Eins-zu-Eins-Bindung des Pesos schien sich für das gerade erst aus der Schuldenkrise herausgekommene Argentinien zukünftig ein leicht berechenbarer Schuldendienst zu eröffnen. Das genügte der internationalen Finanzgemeinde - sie war zufrieden. Was sie nicht sah war, dass der argentinischen Wirtschaft durch das Gängelband des starken Dollars und die hohen US-Zinsen förmlich die Luft abgedreht wurde, und die so bejubelte Verbannung der alten Hyperinflation aus Argentinien letztlich ein Vorbote der Rezession war. Jetzt wird auf einmal offensichtlich, wie die Währungsanbindung Argentinien letztlich ruiniert hat und wie auf einmal auch die Zahlungsfähigkeit des Landes auf der Kippe steht.

Wie will Argentinien es nun schaffen, von dieser Kippe herunterzukommen? Wie gesagt mit dem vielzitierten "Null-Defizit-Programm", das vorsieht, jeden neuen Monat stets nur das ausgeben, was eingenommen wird - solange, bis Argentinien wieder das Marktvertrauen zurückgewonnen hat und sich endlich wieder auf einem Zinsniveau verschulden kann, bei dem Zyniker nicht gleich wieder anfangen zu lachen.

Die argentinische Regierung hat sich damit auf ein gefährliches Spiel mit der Zeit eingelassen: Das Sparpaket wird sich angesichts des großen Protestes in der Bevölkerung und bei der Opposition und durch seine stark kontraktive Wirkung auf die ohnehin am Boden liegende Konjunktur nicht sehr lange durchhalten lassen. Aber es muss so lange aufrechterhalten werden, bis die Eurobondmärkte dem Land wieder soviel Vertrauen entgegenbringen, dass die Renditeaufschläge auf argentinische Staatsanleihen wieder auf ein einigermaßen erträgliches Niveau absinken. Dann aber sind wieder Umschuldungen möglich, die die akute Zins- und Tilgungslast für die Gegenwart senken und große Teile der Schuldenlasten weiter in die Zukunft hinausverlagern, sodass der rigide Sparkuss der öffentlichen Haushalte schnellstmöglich wieder aufgegeben und wieder eine expansivere Fiskalpolitik durchgeführt werden kann. Das Ganze ergibt eine reichlich paradoxe Situation: Die argentinische Regierung versucht, das Marktvertrauen wiederherzustellen mit einer Strategie - dem Null-Defizit-Programm als riskantem Spiel auf Zeit -, die nur aufgeht, wenn sich das Marktvertrauen wiederherstellt. Der Hund beißt sich in den Schwanz. Aber so funktionieren die Märkte nun einmal - George Soros nannte das "Reflexivität".

Vor kurzem hat der alt-neue Wirtschaftsminister Cavallo zudem bekanntlich die zukünftige Abwertung des argentinischen Pesos eingeleitet. Der Außenhandel rechnet ab sofort mit einem Währungskorb aus 50 Prozent Dollar und 50 Prozent Euro. Das Ganze soll sich auch auf das Currency Board erstrecken, wenn der Euro wieder bei der Parität zum Dollar steht. Letztlich bedeutet das also, dass Argentinien langsam und behutsam die Abwertung versucht. Grundsätzlich ist das zu begrüßen: Eine Abwertung ist die einfachste und beste Möglichkeit, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, und Argentinien hat im Gegensatz zu den Ländern, die in den letzten Jahren abgewertet haben, ein starkes und relativ krisenfestes Bankensystem. Was ein für Emerging-Markets-Standards solides Bankensystem ausmacht, war zuletzt 1999 in Brasilien zu beobachten: Die dortige Abwertung verlief weit weniger dramatisch als zuvor in Mexiko oder Asien und später in der Türkei - weil Brasiliens Bankensystem als eines der solidesten in den Emerging Markets galt. Brasiliens Banken hatten sich z. B. ganz anders als ihre koreanischen Kollegen nur moderat im Ausland verschuldet - und wenn, dann sicherten sie die Wechselkurse ab, sodass sie bei der Abwertung dann nicht urplötzlich mit explodierenden Auslandsschulden konfrontiert werden konnten. Dass Argentinien sich für eine graduelle Abwertung zu entscheiden scheint, ist aus dieser Sicht heraus positiv zu bewerten. Denn nicht nur die Banken bekommen so Zeit, sich darauf vorzubereiten, dass der Dollar auf absehbare Zeit vielleicht 20 Prozent mehr kosten wird. Sondern auch die Regierung muss sich darauf einstellen, weil sie schließlich der am meisten gefährdete Schuldner ist.

Und nun zum Abschluss unseres Schuldnerportraits aus Argentinien die in der letzten Folge vorgestellte "Checkliste" - angewandt auf Argentinien. Was dabei auf jeden Fall deutlich wird - denn dazu hat es nicht nur die jetzige Krise gebraucht: Argentinien ist einer der wackligsten Schuldner unter den Schwellenländern, aber im Umkehrschluss auch einer der ertrags- und chancenreichsten. Freilich nur für "bold investors", wie der Emerging-Markets-Guru Mark Mobius von Franklin Templeton Investments es immer auszudrücken pflegt. Womit der legendäre Mobius freilich nicht seine Haartracht meint - bzw. seine nicht vorhandene -, sondern eben ausdrückt, dass es schon einer gehörigen Portion Mutes bedarf, um die Chancen in den Schwellenländern auch zu ergreifen. Und man kann es nicht oft genug wiederholen - wir haben es im Rahmen dieser Artikelserie auch schon reichlich oft getan: So mutig müssen Bondanleger in den Schwellenländern gar nicht sein. Um genau zu sein: Sie brauchen nur den Mut um einzusteigen, im Gegensatz zum Aktieninvestor brauchen sie aber im Gegenzug nicht den Mut - und das ist der große Unterschied - um auch wieder auszusteigen. Davon aber brauchen Aktionäre weit mehr als beim Einstiegsmut - denn bekanntlich sind die meisten Aktienkäufer zu feige, ihre Papiere bei Verlusten zu verkaufen und die roten Zahlen so real werden zu lassen, und sie sind oftmals ebenso zu feige, nach ordentlichen Kursanstiegen ihre Gewinne auch mitzunehmen und in eine steigende Börse hinein zu verkaufen. Bondinvestoren müssen, wenn sie es richtig machen, dagegen nie verkaufen: Sie warten bis zur Fälligkeit ihres Papiers, das sie im Idealfall deutlich unter Nennwert erstanden haben und das ihnen bis zur Endfälligkeit üppige Zinsen bietet. Sie müssen also ganz anders als der Aktienfreund nur den Mut zum Einstieg aufbringen. Und den wollen wir Ihnen mit dieser Artikelserie schließlich machen.

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