Kommentar
10:13 Uhr, 02.06.2004

Öl: Mögliche Folgen eines Produktionsausfalls

1. Der Anschlag und die anschließende Geiselnahme am Wochenende in Saudi Arabien haben den Ölmarkt erneut in Aufruhr versetzt. In den letzten Monaten zeigte sich deutlich, dass Öleinrichtungen verstärkt ins Visier der Terroristen geraten. Innerhalb weniger Wochen wurden zwei Anschläge auf die Hauptschlagader der irakischen Ölindustrie (Pipeline nach und Ölhafen in Basra) verübt. Gleichzeitig waren aber auch erstmals strategische Ziele der Ölindustrie in Saudi Arabien Ziele von Anschlägen. Bisher gab es dort zwar zahlreiche Opfer zu beklagen, die Produktionsstätten selbst wurden jedoch nicht in Mitleidenschaft gezogen. Vielleicht ist dies ein Indiz dafür, dass die wichtigen strategischen Einrichtungen der Ölindustrie derart gut gesichert sind, dass Anschläge auch in Zukunft vereitelt werden können. Dennoch bleibt die Angst vor einem möglichen Anschlag, der Produktionsausfälle nach sich ziehen könnte.

Wir haben dies zum Anlass genommen, die möglichen Auswirkungen eines Produktionsausfalls in Saudi Arabien näher zu beleuchten. Einen Präzedenzfall gibt es nicht. Während aller bisherigen Ölkrisen wurde Saudi Arabien seiner Rolle als sogenannter "producer of last resort" gerecht. Abgesehen vom Ölembargo gegen die USA und die Niederlande 1973/74 sprang Saudi Arabien in den Folgejahren bei Produktionsausfällen regelmäßig in die Bresche. Dies war nur deshalb möglich, weil die Förderpolitik des Landes klar darauf ausgerichtet ist, ein Mindestmaß an freien Kapazitäten zu wahren, um diese im Krisenfall auf den Markt werfen zu können. Im Falle eines Produktionsausfalls in Saudi Arabien selbst könnte diese Rolle von keinem anderen Land übernommen werden. Insofern ist es äußerst schwierig, vor allem den psychologischen Effekt abzugreifen, den ein Ausfall saudischer Förderkapazitäten hätte. Dennoch lohnt ein Blick auf die Ölpreisentwicklung in Folge vergleichbarer Ereignisse in anderen Ländern. Am besten eignen sich hierfür das Ölembargo von 1973/74, die Ölkrise in Folge der iranischen Revolution 1978/79 sowie die Okkupation Kuwaits durch den Irak 1990/91.

2. In allen drei Fällen hatte das Bekanntwerden des Ausfalls einen starken Ölpreisanstieg zur Folge. Im Fall des Ölembargos stieg der Preis für die Dauer des Embargos von Oktober 1973 bis März 1974 um 450 % von 2,591 USD pro Barrel (USD/bbl) im September 1973 auf 12,73 USD/bbl im März 1974. Danach stabilisierte sich der Preis allerdings in einer Bandbreite von 13 bis 15 USD/bbl. Dem Ölmarkt wurden in der Zeit von Oktober 1973 bis März 1974 täglich 2,6 Millionen Barrels entzogen. Zu beachten ist hier allerdings, dass es sich bei dem damaligen Preis nicht um einen Marktpreis handelte, sondern der Preis wurde von den OPEC-Mitgliedstaaten festgelegt. Hinzu kommt, dass diese Phase der Ölmarktentwicklung mit einem drastischen Strukturwandel am Ölmarkt zusammenfiel. Während die Preise in den Jahrzehnten zuvor von den internationalen Ölfirmen künstlich niedrig gehalten wurden, begannen die OPECLänder Anfang der Siebzigerjahre das Zepter an sich zu reißen. Den starken Preisanstieg ausschließlich auf die Produktionsausfälle in Folge des Embargos zurückzuführen, ist daher nicht zu rechtfertigen. Es war vielmehr so, dass die OPEC-Nationen, allen voran der Schah von Persien, das Embargo nutzten, um die Preise unilateral in die Höhe zu treiben. Die Preisbewegung während der ersten Ölkrise sollte daher nicht als Vergleichsmaßstab für die möglichen Auswirkungen eines Produktionsausfalls in Saudi Arabien herangezogen werden.

3. Anders stellte sich die Lage zur Zeit der zweiten Ölkrise 1978/79 dar. Zwischen September 1978 und April 1979, als dem Ölmarkt durch den Ausfall der iranischen Ölproduktion täglich ca. 3,5 Millionen Barrels pro Tag (mbd) entzogen wurden, stieg der Ölpreis lediglich um 20 % an. Im Gegensatz zum Embargo 1973/74 stabilisierte sich der Preis in der Folge jedoch nicht, sondern stieg weiter, bis er im November 1981 in der Spitze über 36 USD/bbl erreichte. Über die gesamte Periode hinweg entspricht dies einem Anstieg um 150 %.

Die irakische Invasion Kuwaits schließlich sorgte für den bisher weitreichendsten Produktionsausfall. In der Zeit von August bis Oktober 1990 wurden dem Ölmarkt durch den Ausfall der kuwaitischen und der irakischen Förderkapazitäten täglich 4,6 Millionen Barrels entzogen. In der Preisentwicklung zeigte sich dies in einem Anstieg um knapp 100 % von 18,42 USD/bbl im Juli auf 36,13 % USD/bbl im Oktober. Danach war jedoch eine deutliche Entspannung zu verzeichnen.

4. Beide Krisen weisen durchaus Ähnlichkeiten auf. Es war jeweils Saudi Arabien, das in kürzester Zeit die Produktionsausfälle der anderen OPEC-Fördernationen ausglich. In beiden Fällen waren genügend Überkapazitäten vorhanden, um die Produktionsausfälle zu kompensieren. Es gibt aber auch fundamentale Unterschiede, die den sehr unterschiedlichen Ölpreisverlauf nach dem Ende des Angebotsengpasses erklären.

1978/79 war der Produktionsausfall im Iran der Auslöser für einen starken Preisanstieg, der sich auch fortsetzte, nachdem Saudi Arabien seine Produktion ausweitete. Begründen lässt sich dies durch Panikkäufe der Endverbraucher. Der Sturz des Schahs im Iran, die Geiselkrise in Teheran sowie der Ausbruch des Iran-Irak Kriegs, welcher dem Ölmarkt zusätzlich 3,3 mbd entzog, hatten vor allem bei den Endverbrauchern eine derartige Verunsicherung über die zukünftige Versorgung mit Rohöl aus der Golfregion ausgelöst, dass bei den Ölprodukten (Benzin, Heizöl...) regelrechte Panikkäufe einsetzten. Dies führte zu einem starken Rückgang der kommerziellen Lagerbestände. Da jedoch auch die Ölfirmen selbst von weiter steigenden Ölpreisen und anhaltender Unsicherheit ausgingen, versuchten sie, diesem Lagerabbau entgegen zu wirken, aus Angst, die Kosten für den Lageraufbau könnten in Zukunft dramatisch steigen. Nur dadurch lässt sich erklären, dass der Ölkonsum 1979 trotz des hohen Ölpreises weiter stieg. Durch diesen zusätzlichen Nachfrageschub wurde schließlich auch der Ölpreis weiter nach oben getrieben. 5. Anders verhielten sich die Konsumenten während der Golfkrise 1990/91. Hier war lediglich ein vorübergehendes Überschießen des Ölpreises festzustellen. Diesem konnte jedoch sehr schnell durch die Produktionsanpassung Saudi Arabiens und die koordinierte Freigabe eines Teils der weltweiten strategischen Ölreserven entgegengewirkt werden. Dieses schnelle und koordinierte Handeln und die Tatsache, dass sich die Rohöllagerbestände auf Höchstständen befanden, hielten die Unsicherheit in Grenzen und ließen folglich kaum Panikkäufe aufkommen. So lässt sich auch erklären, dass der Preis für WTI bereits im November 1990, noch vor der Befreiung Kuwaits durch die USA, deutlich nachgab.

6. Was lässt sich nun daraus für die Ölpreisentwicklung im Falle eines Produktionsausfalls in Saudi Arabien ableiten? Konkrete Preisprognosen sind aufgrund der Sonderstellung Saudi Arabiens mit Sicherheit nicht möglich. Es kann jedoch versucht werden abzuschätzen, unter welchen Bedingungen ein länger andauernder Preisanstieg vorstellbar wäre bzw. wann lediglich ein vorübergehender Preisanstieg zu verzeichnen wäre. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass in den Industrieländern genügend strategische Rohölreserven gehalten werden, um einen kompletten Produktionsausfall Saudi Arabiens für mindestens ein Jahr verkraften zu können. Sollte es jedoch zu einem Komplett-Ausfall über mehrere Monate kommen, ist davon auszugehen, dass es selbst bei einer Freigabe dieser Reserven für den Ölpreis kaum noch ein Halten nach oben gibt. Die dadurch ausgelöste Unsicherheit über die zukünftige Ölversorgung würde vermutlich nicht nur Spekulanten in den Markt treiben, sondern es wären auch Panikkäufe wie während der Ölkrise 1978/79 zu befürchten. Einen Komplettausfall der saudischen Ölförderkapazitäten über mehrere Monate halten wir jedoch für äußerst unwahrscheinlich.

Sollte es zu einem beschränkten Produktionsausfall kommen, wird die Preisreaktion einerseits vom Ausmaß des Ausfalls und anderseits von der Dauer des Ausfalls abhängen. Sollten die Produktionsausfälle überschaubar und vor allem zeitlich begrenzt sein, ist zwar kurzfristig auf jeden Fall mit einem starken Überschießen des Ölpreise zu rechnen, durch eine koordinierte Freigabe der weltweiten strategischen Reserven sollte es aber möglich sein, einem zu starken Ölpreisanstieg entgegen zu wirken. Eine ähnliche Situation wie 1990 wäre dann die wahrscheinlichste Variante. Zwei Risikofaktoren bleiben allerdings bestehen: Ein Teil der Preisreaktion konnte damals mit Sicherheit durch die hohen kommerziellen Lagerbestände aufgefangen werden. Im Gegensatz dazu befinden sich diese Lagerbestände heute auf sehr niedrigen Niveaus. Von dieser Seite besteht daher kaum Spielraum, um etwaigen Produktionsausfällen entgegen zu wirken.

Hinzu kommt, dass damals auch noch genügend Überkapazitäten innerhalb der OPEC vorhanden waren, um den Ausfall ohne größere Schwierigkeiten wett zu machen. Heute belaufen sich die Überkapazitäten im besten Fall auf 1,5 bis 2 mbd, welche nahezu ausschließlich Saudi Arabien zuzuordnen sind. Auch von dieser Seite ist daher kaum eine preisdämpfende Wirkung zu erwarten.

Beide Faktoren, die niedrigen Lagerbestände und die kaum noch vorhandenen Überkapazitäten, könnten die kurzfristige Preisreaktion etwas stärker ausfallen lassen als während der Okkupation Kuwaits durch den Irak.

7. Was ist in den nächsten Wochen und Monaten von der Ölpreisentwicklung zu erwarten? Kurzfristig sehen wir kaum Entspannungspotenzial. Ein Mix aus niedrigen Lagerbeständen, starker Nachfrage, Kapazitätsengpässen vor allem bei Raffinerien und Angst vor Anschlägen auf Öleinrichtungen in Saudi Arabien (für eine umfassendere Darstellung siehe VA Rohölpreis vom 25.05.2004) wird dazu beitragen, dass der Ölpreis weiter auf hohem Niveau verharrt. Wir rechnen damit, dass sich der Preis für WTI bzw. Brent Blend in einer Bandbreite von 39 bis 43 USD/bbl bzw. 36 bis 40 USD/bbl bewegen wird. Ein dauerhafter Rückgang ist erst dann zu erwarten, wenn sich aufgrund der Produktionsausweitung der OPEC in den nächsten Monaten ein nachhaltiger Lagerbestandsaufbau abzeichnen sollte. Unsere Prognose von 35 USD/bbl bzw. 32,5 USD/bbl für WTI bzw. Brent Blend im Jahresdurchschnitt ist daher als sehr konservative Schätzung zu sehen und eher als Untergrenze zu interpretieren. Aufgrund der hohen spekulativen Positionen im Markt, die den Preis um etwa 4 bis 5 USD/bbl nach oben verzerren und deren Ausverkauf zumindest vorübergehend eine sehr starke Preiskorrektur auslösen könnte, behalten wir diese Prognose aber vorerst bei.

8. Für das OPEC-Treffen am Donnerstag in Beirut gehen wir davon aus, dass die OPEC die Förderquoten um mindestens 2 mbd erhöhen wird. In diesem Fall rechen wir kaum mit einer nachhaltigen Preisreaktion. In den letzten Tagen kamen Gerüchte auf, dass man in OPEC-Kreisen auch eine vorübergehende Aussetzung der Förderquoten in Erwägung zieht. Dies halten wir für weniger wahrscheinlich. Auf die weitere Förderpolitik der OPEC hätte dies zwar kaum Auswirkungen, da sich auch im Moment niemand an die Förderquoten hält. So hat beispielsweise Saudi Arabien bereits vergangene Woche angekündigt, die Produktion auf über 9 mbd ausweiten zu wollen. Für die Psychologie des Marktes könnte dies allerdings von Vorteil sein, da man sich zumindest sicher sein könnte, dass die OPEC tatsächlich bemüht ist, einem weiteren Ölpreisanstieg entgegen zu wirken. In dem Fall wäre daher mit einem leichten Preisrückgang zu rechnen.

Neben den Beratungen über die Förderquoten ist auch davon auszugehen, dass die OPECFördernationen ihr Preisband anheben. Der derzeitige Korridor von 22 bis 28 USD/bbl ist de facto bereits seit fast zwei Jahren außer Kraft. Es wäre daher unseres Erachtens nur konsequent, das Band in die Region von 30 bis 36 USD/bbl anzuheben. Wir gehen nicht davon aus, dass ein derartiger Schritt starke Marktreaktionen hervorrufen würden. Er würde vermutlich nur die letzten Zweifler davon überzeugen, dass Preise von leicht über 30 USD/bbl auch in den nächsten Jahren auf der Tagesordnung stehen werden.

Quelle: DekaBank

Die DekaBank ist im Jahr 1999 aus der Fusion von Deutsche Girozentrale - Deutsche Kommunalbank- und DekaBank GmbH hervorgegangen. Die Gesellschaft ist als Zentralinstitut der deutschen Sparkassenorganisation im Investmentfondsgeschäft aktiv. Mit einem Fondsvolumen von rund 130 Mrd. Euro gehört die DekaBank zu den größten Finanzdienstleistern Deutschlands. Im Publikumsfondsgeschäft hält der DekaBank-Konzern einen Marktanteil von etwa 20 Prozent.

Keine Kommentare

Du willst kommentieren?

Die Kommentarfunktion auf stock3 ist Nutzerinnen und Nutzern mit einem unserer Abonnements vorbehalten.

  • für freie Beiträge: beliebiges Abonnement von stock3
  • für stock3 Plus-Beiträge: stock3 Plus-Abonnement
Zum Store Jetzt einloggen