Ökonomen fordern 600 Milliarden extra gegen marode Infrastruktur
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Von Andreas Kißler
BERLIN (Dow Jones) - Gewerkschafts- und arbeitgebernahe Ökonomen haben 600 Milliarden Euro an staatlichen Extra-Investitionen über zehn Jahre gefordert, um die öffentliche Infrastruktur und damit die Wirtschaft in Deutschland zukunftsfähig zu machen. "Mit den insgesamt rund 600 Milliarden Euro könnten bis Mitte der 2030er Jahre nicht nur der Investitionsstau in den Kommunen aufgelöst werden, sondern auch dringend nötige Fortschritte in der Qualität der Bildungsinfrastruktur, bei Energie- und Verkehrsnetzen, Öffentlichem Verkehr sowie bei der Dekarbonisierung des Landes erzielt werden", erklärte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zum Ergebnis einer gemeinsamen Studie mit dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW).
Eine derartige Investitionsoffensive würde wirtschaftliche Vorteile über Jahrzehnte bringen - etwa weil eine höhere Produktivität durch bessere Bildung und effektivere Technik die geringere Anzahl an Arbeitskräften in einer alternden Gesellschaft teilweise ausgleichen könne. Berücksichtigt seien auch kommunale Klimaanpassungsinvestitionen, die helfen können, drohende Schäden durch den Klimawandel zu begrenzen. Weil künftige Generationen von diesen Investitionen profitieren, sei es sinnvoll, diese auch über Kredite zu finanzieren. Die Regelungen zur Schuldenbremse sollten so schnell wie möglich modifiziert werden, um den notwendigen Spielraum für Kredite zu ermöglichen.
IMK und IW hatten den zusätzlichen öffentlichen Investitionsbedarf für die folgenden zehn Jahre 2019 schon einmal beziffert - damals auf rund 460 Milliarden Euro. In der Zwischenzeit habe es in einigen Bereichen deutliche Fortschritte gegeben, etwa beim Breitbandausbau und beim Bau von Kitas, so IMK-Direktor Sebastian Dullien und IW-Direktor Michael Hüther. Dass sich aber "die Dringlichkeit einer verstärkten öffentlichen Investitionstätigkeit in den vergangenen fünf Jahren noch einmal verschärft" habe, erklärten sie mit den multiplen Krisen seit 2020 und ihren Auswirkungen auf das Wachstumspotenzial sowie beschleunigtem Transformationsdruck vor allem bei der Energieversorgung.
Auch seien die Anforderungen an den Klimaschutz durch den Beschluss des Verfassungsgerichts vom März 2021 und die daraus resultierende Änderung des Klimaschutzgesetzes im August 2021 noch einmal deutlich gestiegen, was sich nun in erheblich höheren Investitionsbedarfen spiegele - beispielsweise für ein Wasserstoffnetz. Mehr und mehr trete auch der Bereich Klimaanpassung in den Fokus, der 2019 noch ausgeblendet worden sei. Und schließlich seien seitdem die Preise erheblich gestiegen, zudem habe sich die Demografie deutlich anders entwickelt als noch vor wenigen Jahren vorausberechnet - durch die starke Zuwanderung ist die Bevölkerung in Deutschland größer und auch jünger als erwartet.
Vom Stückwerk verabschieden
"Die deutsche Wirtschaft steht vor gigantischen Herausforderungen", sagte Hüther. "Wir brauchen jetzt Mut, um uns vom Stückwerk zu verabschieden und das Land langfristig zukunftsfähig zu machen." Dullien betonte, "vermeintlich belastbare Brücken in die Zukunft" seien weggebrochen, etwa Gas als Zwischentechnologie. "Wir müssen daher noch mehr tun, um unsere wirtschaftliche Basis durch Modernisierung zu sichern." Mache man erfolgreich Tempo, sei der Umbau schneller geschafft. "Davon profitieren auch Wirtschaft und Beschäftigte - und natürlich auch die nächste Generation."
Angesichts der über Jahre entstandenen Lücken kalkulieren die Forscher den Angaben zufolge mit einem guten Drittel der zusätzlichen Investitionssumme, um den bei Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen. Gestützt auf Analysen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) veranschlagen sie dafür rund 177 Milliarden Euro über zehn Jahre. Hinzu kämen gut 13 Milliarden Euro, mit denen die Klimaanpassung in Städten und Gemeinden vorangetrieben werden solle. Rund 200 Milliarden Euro über zehn Jahre veranschlagen sie für öffentliche Investitionen in Klimaschutz - mit energetischer Gebäudesanierung als größtem Einzelposten.
Rund 127 Milliarden Euro sollten zusätzlich in Verkehrswege und Öffentlichen Personennahverkehr investiert werden, knapp 42 Milliarden Euro für eine bessere Bildungsinfrastruktur. Auch sollten über zehn Jahre zusätzlich knapp 37 Milliarden Euro in den sozialen Wohnungsbau fließen. Im Verhältnis zur deutschen Wirtschaftsleistung sei der zusätzliche Finanzbedarf von jährlich rund 60 Milliarden Euro oder rund 1,4 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts (BIP) "eine überschaubare Größenordnung", erklärten die Ökonomen. Es sei unrealistisch, diese Summen durch Umschichtungen oder Kürzungen in den öffentlichen Haushalten zusammenzubekommen. Daher sei eine Kreditfinanzierung "unumgänglich".
Blockiert werde der Umstieg auf einen ambitionierten Investitionskurs durch die schematischen deutschen und teilweise auch europäischen Schuldenregeln, so die gemeinsame Analyse von IMK und IW. Dass diese aus der Zeit gefallen seien, sei zunehmend Konsens in der Wirtschaftswissenschaft. Ein Lösungsansatz wäre ein großvolumiger Infrastrukturfonds, der, wie das Sondervermögen für die Bundeswehr, von der Schuldenbremse ausgenommen wäre. Als Variante dazu könnten Unternehmen in öffentlichem Eigentum die Aufgabe der Investitionsfinanzierung übernehmen. Alternativ könnten die Schuldenbremse und der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt durch eine "Goldene Regel" ergänzt werden, die Investitionen von der geltenden Neuverschuldungsbegrenzung ausnähme.
Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com
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