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16:10 Uhr, 24.03.2024

Mehr als 130 Tote nach Angriff auf Moskauer Konzertsaal

Von Thomas Grove und Ann M. Simmons

NEW YORK (Dow Jones) - Russlands Behörden haben nach eigenen Aussagen 11 Personen im Zusammenhang mit einem Terroranschlag auf einen Konzertsaal in einem Moskauer Vorort festgenommen. Die Zahl der Todesopfer des Anschlags am Freitagabend stieg nach Angaben von Ermittlern auf mindestens 133.

Der russische Präsident Wladimir Putin gelobte am Samstag, die Verantwortlichen für den "vorsätzlichen Massenmord an unbewaffneten Menschen" zu bestrafen. Unter den Festgenommenen sind vier Personen, die laut Staatsanwaltschaft direkt an dem Anschlag beteiligt waren. Bei dem Anschlag hatten Bewaffnete aus nächster Nähe auf Zuschauer geschossen und Rauchbomben gezündet. Der Angriff hatte am Freitag kurz vor 20.00 Uhr begonnen, als die ausverkaufte Show beginnen sollte und sich die Angreifer in Tarnkleidung dem Konzertort näherten.

Die islamistische Extremistengruppe Islamischer Staat (IS) hat sich zu dem Anschlag bekannt. Sie erklärte, sie habe in ihrer Kampagne gegen "Länder, die den Islam bekämpfen" einen "schweren Schlag" geführt.

US-Behörden sagen, sie hätten Russland Anfang des Monats vor einer bevorstehenden terroristischen Bedrohung gewarnt. Die USA gehen davon aus, dass ein in Afghanistan ansässiger Ableger des Islamischen Staates, der als ISIS-K bekannt ist, hinter dem Anschlag steckt.

Moskau hatte die Bedenken Washingtons öffentlich heruntergespielt. Die russische Regierung sieht sich nun mit einer potenziell ernsthaften neuen Bedrohung konfrontiert, während der Kreml einen kostspieligen Zermürbungskrieg gegen die Ukraine führt, in die Russland 2022 einmarschiert ist.

Am Samstag versuchte Putin, die Täter des Anschlags mit Kiew in Verbindung zu bringen, indem er behauptete, einige von ihnen seien bei einem Fluchtversuch in die Ukraine festgenommen worden. Er lieferte keine Beweise. "Ersten Informationen zufolge wurde von ukrainischer Seite eine Öffnung für sie vorbereitet", sagte er.

Die Ukraine hat jegliche Beteiligung an dem Angriff bestritten. Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj warnte, dass Moskau den Angriff als Vorwand nutzen könnte, um mehr Truppen zu mobilisieren und Russlands Kriegsanstrengungen zu verstärken.

Die ISIS-K, die sich zum Teil aus Bürgern zentralasiatischer Länder zusammensetzt, die einst zur Sowjetunion gehörten, hat Moskau schon lange im Visier. Im September 2022 übernahm die Gruppe die Verantwortung für eine Explosion in der russischen Botschaft in Kabul, bei der sechs Menschen getötet wurden.

Europäische Sicherheitsbehörden zufolge ist Europa seit fast zwei Jahren mit einer wachsenden Bedrohung durch ISIS-K konfrontiert. US-Geheimdienste warnen seit 2022 vor den Plänen der Gruppe wie Selbstmordattentate und andere Terrorakte, auch in Russland.

Moskau hat eine lange und blutige Erfahrung mit Terroranschlägen, von denen die meisten auf die beiden Kriege mit den Separatisten in Tschetschenien - der mehrheitlich muslimischen Region im Nordkaukasus - zurückzuführen sind. Einer dieser Kriege begann in Putins erster Amtszeit als Präsident. Viele der einheimischen Extremisten, die Moskau bedrohten, verließen jedoch Mitte der 2010er Jahre das Land und schlossen sich dem Islamischen Staat im Irak und in Syrien an. Und Russlands Aufmerksamkeit hat sich zunehmend vom Kampf gegen den Terrorismus auf die Führung eines konventionellen Krieges in der Ukraine und seine wachsende Rivalität mit den USA verlagert.

Der Anschlag vom Freitagabend erinnerte an den schlimmsten Terroranschlag in Moskau im Jahr 2002, als tschetschenische Separatisten rund 850 Zuschauer und Angestellte im Dubrowka-Theater als Geiseln nahmen. Der Einsatz von Gas durch den russischen Sicherheitsdienst zur Beendigung der Belagerung und die anschließende Erstürmung des Theaters forderten 172 Todesopfer.

Putin, der vergangene Woche für eine weitere sechsjährige Amtszeit wiedergewählt wurde, hat die Sicherheit im In- und Ausland zu einem Thema seiner Wahlkampagne gemacht und den Russen erklärt, er sei der einzige Führer, der das Land sicher halten könne. Während russische Städte und die Zivilbevölkerung weitgehend vom Konflikt in der Ukraine abgeschirmt sind, ist es den ukrainischen Streitkräften gelungen, tief in das russische Hoheitsgebiet einzudringen, zuletzt mit einer Reihe von Angriffen auf Ölraffinerien. Am Samstag schlugen ukrainische Raketen in der Hafenstadt Sewastopol auf der besetzten Krim ein, wie die russischen Besatzungsbehörden mitteilten. Die genauen Ziele und das Ausmaß des Schadens konnten nicht ermittelt werden. Kiew führt auch weiterhin Angriffe auf die russischen Seestreitkräfte im Schwarzen Meer und militärische Einrichtungen auf der besetzten Krim durch. Speziell ausgebildete Kommandogruppen haben auch Angriffe in der russischen Region Belgorod durchgeführt, die an die Ukraine grenzt.

Am Samstag wurden die Sicherheitsvorkehrungen in der gesamten Region Moskau verschärft und zusätzliche Kontrollen an Flughäfen, Bahnhöfen und Metrostationen durchgeführt, so die Behörden. Putin sagte, dass in Moskau und der umliegenden Region zusätzliche Maßnahmen zur Terrorismus- und Sabotagebekämpfung eingeführt würden. "Das Wichtigste ist, dass die Hintermänner dieses Blutbads keine neuen Verbrechen begehen können", sagte er. In Moskau legten die Einwohner Blumen an Gedenkstätten nieder und stellten sich zur Blutspende an. Putin erklärte den Sonntag zum Trauertag.

   Scholz und Habeck verurteilen den Anschlag und kondolieren den Angehörigen 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat den tödlichen Angriff verurteilt. "Wir verurteilen den schrecklichen Terrorangriff auf unschuldige Konzertbesucher in Moskau", schrieb er am Samstag im Internetdienst X, vormals Twitter. "Unsere Gedanken sind mit den Angehörigen der Opfer und allen Verletzten."

Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) sprach von "furchtbaren Nachrichten aus Moskau". "Mein Beileid gilt den Opfern und ihren Familien, die jetzt trauern und um die Verletzten bangen", so Habeck in einer vom Bundeswirtschaftsministerium auf Deutsch und Russisch verbreiteten Mitteilung auf X. Wichtig sei nun, "die Hintergründe schnell aufzuklären".

Der Grünen-Europapolitiker Anton Hofreiter warnte davor, die Ukraine in Verbindung mit dem Terroranschlag in Moskau zu bringen. "Es kommt jetzt darauf, an die Tat aufzuklären und nicht den Falschmeldungen, die gezielt in Richtung Ukraine gestreut wurden, Glauben zu schenken", sagte der Vorsitzende des Europaausschusses den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Hofreiter berief sich auf Experten, die das Bekennerschreiben der Terrororganisation IS als echt einstuften. "Es wäre nicht der erste Anschlag in Russland durch Islamisten."

Der Präsident des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan Kramer, hält es nach derzeitigem Stand als das wahrscheinlichste Szenario, dass Islamisten den schweren Anschlag bei Moskau verübt haben, sagte er dem Handelsblatt.

(Mitarbeit: Bojan Pancevski und Yaroslav Trofimov)

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