Lateinamerika: Was kommt nach der Krise?
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Seit Ende Oktober 2008 entwickelten sich Schwellenländeraktien weltweit besser als die Aktien der Industrienationen, und Lateinamerika folgte dem breiten Trend des Emerging Market Universums. Interessanter ist jedoch die Diskrepanz zwischen Brasilien, einem der weltweiten Spitzenreiter, und dem weit abgeschlagenen Mexiko. Beide Länder reagieren immer unterschiedlicher auf globale Marktentwicklungen, was einen summarischen Vergleich zwischen Lateinamerika und den asiatischen oder osteuropäischen Schwellenländern erschwert. Will man die Attraktivität des lateinamerikanischen Aktienmarktes bewerten, sollten daher beide Länder getrennt betrachtet werden. Genau dies werden wir hier tun. Das abschließende Urteil über die Region ist dabei notwendigerweise weniger aussagekräftig als die Bewertung der beiden Einzelmärkte.
1. Gute Marktbedingungen für Schwellenländeraktien.
Lateinamerika kann wahrscheinlich auch künftig von einem positiven globalen Umfeld für Schwellenländer profitieren. In unserer Aprilausgabe des Emerging Equity Markets Monthly (EEMM) untersuchten wir, warum sich Emerging Market Aktien auch in Zukunft besser entwickeln sollten als ihre Pendants in den Industriestaaten. Lassen Sie hier uns noch einmal kurz auf die ermittelten sechs Gründe zurückkommen.
- Die Zuversicht in das globale Wachstum ist weiter gestiegen. Die wichtigsten Frühindikatoren sowie die Verbraucher- und Geschäftsklimaumfragen lassen ab dem dritten Quartal auf eine weltweite Konjunkturerholung hoffen.
- Der Handel erreichte im Februar eine Talsohle. Seitdem hat eine langsame Erholung eingesetzt, im Zuge derer die Gesamtexporte der Schwellenländer (in USD) im April um 22% über den Februarwerten lagen.
- Nachdem im April zunächst China und Korea überraschend hohe Ausfuhren meldeten, veröffentlichten auch noch andere Länder unerwartet positive Konjunkturdaten. Indonesien, Polen und Israel warteten für das erste Quartal mit einem BIP- Anstieg von 4,4%, 3,6% bzw. 1,1% auf. Entsprechend erhöhten wir unsere BIP-Prognose für die Emerging Markets von 0,6% auf 0,8%.
- Die globale Liquidität lässt nach wie vor zu wünschen übrig, auch wenn sich das weltweite Geldmengenwachstum M2 jetzt zwei Monate hintereinander verbessert hat. Die Zentralbanken haben zwar konsequent Liquidität ins Finanzsystem gepumpt, doch die Kreditvergabe bleibt stockend. Dadurch wächst die Geldmenge in den USA und Europa nur wenig.
- Die allgemein sinkenden Leistungsbilanzdefizite haben die gesamtwirtschaftliche Anfälligkeit der Schwellenländer weiter reduziert. Polen und die Türkei sind dafür wahrscheinlich die besten Beispiele. Nach einem Leistungsbilanzdefizit von 5,5% im vierten Quartal 2008 wies Polen für das erste Quartal 2009 einen leichten Überschuss aus, und die 2008 ebenfalls um 5,5% defizitäre Türkei hat diesen Fehlbetrag im ersten Quartal fast vollständig abgebaut. Angesichts des gesunkenen externen Finanzbedarfs werteten die Emerging Market Währungen in den letzten drei Monaten auf.
- Seit nunmehr elf Wochen fließt mehr Geld in Schwellenländeraktien, als abgezogen wird. Insgesamt wurden netto 20 Mrd. USD neu angelegt, so dass die Mittelabflüsse des vergangenen Jahres bereits wieder zur Hälfte kompensiert wurden. Emerging Markets haben ohne Frage ihren angestammten Platz als wichtige Portfoliokomponente zurückerobert.
2. Brasilien profitiert von soliden Finanzen und seiner großen Binnenwirtschaft
Von allen Schwellenländern reagiert Brasilien am stärksten auf Schwankungen der Rohstoffpreise. Berücksichtigt man, dass Energie und Rohstoffe 55% des Aktienmarktes ausmachen, sind die überdurchschnittlichen Kurseinbrüche in der zweiten Jahreshälfte 2008 leicht verständlich. Nachdem sich die Rohstoffpreise seit Ende vergangenen Jahres erholten, ist der brasilianische Markt 2009 wieder attraktiver geworden. Doch selbstverständlich spricht noch weit mehr für ein Engagement in diesem Land. Die Binnennachfrage Brasiliens ist höher als in den meisten anderen Schwellenländern, weil der Arbeitsmarkt weniger stark vom Welthandel abhängt. So ist die Arbeitslosigkeit seit Beginn der Krise zwar gestiegen, doch die jüngsten Arbeitsmarktdaten stellen bereits wieder eine Erholung in Aussicht. Zwischen März und April wurden netto 140.000 neue Arbeitsplätze geschaffen, während die Beschäftigungsquoten in den meisten anderen Schwellenländern noch sinken. Gleichzeitig stiegen auch die Reallöhne weiter, im März um 3%. Und dank des gesunden brasilianischen Bankensystems, dessen Wachstum in den vergangenen fünf Jahren zudem auf niedrigem Niveau startete, liegt das Kreditwachstum nach wie vor bei über 25%. Die Kombination aus kräftigem Kreditwachstum und dem Anstieg von Beschäftigung und Löhnen ließ den Konsum auch während der Krise weiter steigen. Angesichts der sinkenden Zinsen und der in letzter Zeit günstigeren Arbeitsmarktdaten sollte der brasilianische Verbrauch seinen positiven Trend beibehalten.
Die Devisenreserven Brasiliens sind seit September 2008, als der BRL stark unter Druck geriet, lediglich um 10% gesunken. Brasilien hat gut daran getan, seine Währung anders als verschiedene andere Schwellenländer dem externen Druck auszusetzen. Da kein nennenswertes wirtschaftliches Ungleichgewicht besteht, sind hohe Kapitalabflüsse während der Krise wohl vermeidbar. Daneben sprechen auch der hohe Zinsvorsprung und das relativ geringe Länderrisiko für weitere Mittelzuflüsse nach Brasilien. So machte der BRL in den letzten Monaten bereits wieder die Hälfte seiner Verluste wett, wodurch Aktienanleger einen direkten und einen indirekten Vorteil erlangen: Direkt profitieren sie von den Devisengewinnen, und die deflationäre Wirkung der stärkeren Währung ist mindestens ebenso interessant. Trotz des Konjunkturabschwungs verharrte die brasilianische Inflation über dem Zentralbankziel von 4,5%. Mit dem Erstarken des BRL sollte die Inflation nun sinken, wodurch die Zentralbank größeren Spielraum für Zinssenkungen gewinnt. Das verbessert auch die Aussichten für das Wirtschaftswachstum und erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass mehr brasilianische Anlagegelder in brasilianische Aktien fließen, wenn die Anleihenmärkte an Attraktivität verlieren. Die erwarteten Mittelzuflüsse in brasilianische Aktien, das robuste Wachstum der Binnennachfrage und die Erholung der Rohstoffpreise machen Brasilien zu einem unserer bevorzugten Märkte weltweit.
3. Mexiko hat wahrscheinlich die Talsohle erreicht, wie aber geht es wieder aufwärts?
Während Brasilien die schwere See gut überstanden hat, ist Mexiko stark angeschlagen. Im ersten Quartal schrumpfte die Wirtschaft gegenüber ihrem Vorjahreswert um 8,2%. Selbst während der Tequila-Krise im Jahr 1995, als Mexiko seine schlimmste Finanzkrise seit Jahrzehnten erlitt, war dieser Wert nicht so hoch. Und die im April ausgebrochene Schweinegrippe sorgt im zweiten Quartal vermutlich für einen noch stärkeren Einbruch. Wir erwarten für das zweite Quartal wir einen Rückgang von 9% und für das Gesamtjahr 2009 einen durchschnittlichen Rückgang um 7,5%.
Das Verbrauchervertrauen und der Geschäftsklimaindex haben sich in jüngster Zeit leicht aufgehellt, so dass der Verbrauch und das Investitionswachstum wahrscheinlich demnächst die Talsohle erreichen. Da die Grippe jedoch zusätzlichen Druck ausübt, sinkt das mexikanische Wachstum vermutlich erst im dritten Quartal auf seinen Tiefpunkt. Damit sind die Aussichten auf einen Anstieg der Inlandsnachfrage noch nicht gut, doch zumindest steigt die Chance, dass die Aktienmärkte die Angst vor einem weiteren Wachstumseinbruch weitgehend abgeschüttelt haben. Die Erholung ist voraussichtlich langwierig. Beschäftigung und Löhne sollten auch künftig nur gering wachsen, weil sich die US-Nachfrage nach mexikanischen Gütern wohl nur langsam erholt. Das Kreditwachstum ist immer noch rückläufig und trägt vermutlich kaum zum Konsumwachstum bei. Trotz niedrigerer Zinsen leidet die Kreditnachfrage voraussichtlich unter dem schwachen Verbrauchervertrauen und dem schlechten Geschäftsklima. Für öffentliche Ausgaben besteht wenig Spielraum, da das Haushaltsdefizit bereits empfindlich gestiegen ist. Und auch die investiven Ausgaben steigen in den nächsten Quartalen wahrscheinlich nur gering, denn es ist unklar, ob und in welchem Umfang öffentliche und private Mittel für Wohnungsbau- und Infrastrukturprojekte bereitstehen.
Auch die längerfristigen Aussichten für die mexikanische Wirtschaft sind trübe. Früher beruhte das Wachstum in erster Linie auf der hohen Importnachfrage aus den USA und den dank unverhoffter Einkünfte aus dem Ölgeschäft steigenden Investitionsausgaben. Aus dieser Ecke kommt aber in nächster Zukunft wohl wenig Unterstützung. Die Erholung der finanziell angeschlagenen US-Verbraucher dauert Jahre, und während dieser Zeit erholt sich die Importnachfrage wahrscheinlich nur langsam. Im Übrigen beruhte fast ein Drittel aller mexikanischen Exporte auf dem US-Automobilsektor (in erster Linie Zwischenprodukte). Da der Niedergang der US-Autoindustrie wahrscheinlich struktureller Natur ist, muss der mexikanische Export völlig neue Wege einschlagen. Diversifizierung ist das Gebot der Stunde. Da jedoch das Produktivitätswachstum unter dem globalen Schwellenländerdurchschnitt liegt und die Qualität der mexikanischen Bildung nicht steigt, ist es um die Chancen eher schlecht bestellt. Als zuverlässiger Motor des Wirtschaftswachstums fällt der Exportsektor in den nächsten Jahren voraussichtlich aus.
Dass die Einkünfte aus dem Ölgeschäft in Mexiko einen weiteren Boom auslösen, ist eher unwahrscheinlich, denn die Aussichten für das globale Wachstum sind nicht gut genug, um beim aktuellen Ölpreis eine deutliche Steigerung zu erwarten. Hinzu kommt, dass die Energiebranche Mexikos einen strukturellen Niedergang erlebt, der nur durch behutsame politische Reformen rückgängig gemacht werden kann. Doch nur wenige Beobachter glauben, dass die aktuelle Regierung willens oder in der Lage ist, die angestammten Rechte der staatseigenen Ölbranche so stark zu beschneiden, dass der Rückgang der Ölproduktion gestoppt werden kann.
Der mexikanische Aktienmarkt mag den Zusammenbruch der Wirtschaft verdaut haben (der schlimmer war, als die meisten angenommen hatten), doch für rosige Erholungsszenarien besteht wenig Anlass. Wir glauben nicht an eine schnelle Rückkehr des Wachstums. Andere Schwellenländer wie z.B. Brasilien haben bessere Aussichten auf künftiges Wachstum von Wirtschaft und Unternehmensgewinnen.
4. Fazit
Mexiko und Brasilien stellen 85% des lateinamerikanischen Aktienmarktes. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns hier auf diese zwei Märkte und verschieben die Analyse kleinerer Märkte (Chile, Kolumbien, Peru und Argentinien) auf einen späteren Zeitpunkt. Da wir den brasilianischen Markt aus globaler Perspektive zwar optimistisch, den mexikanischen Markt hingegen neutral bis pessimistisch einschätzen, schneidet Lateinamerika im regionalen Vergleich nicht deutlich besser ab als die aufstrebenden Wirtschaften Asiens oder Osteuropas.
Autor: Maarten-Jan Bakkum
Quelle: ING Investment Management
ING Investment Management ist der globale Asset Manager der ING Gruppe. Mit annähernd 375 Milliarden Euro Assets under Management, vertreten in 37 Ländern mit mehr als 3.700 Mitarbeitern, ist ING Investment Management (ING IM) weltweit auf Platz 27 im Asset Management.
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