Kommentar
18:47 Uhr, 12.07.2004

Keep it simple - try a line chart (+ Charts)

Oft stellen sich Trader selbst ein Bein, indem sie ihre Charts unnötig verkomplizieren. Um sich beim Traden sicherer zu fühlen, werden dann Indikatoren und andere technische Werkzeuge überstrapaziert. Dieser Verkomplizierung ist meist das Resultat einer fehlenden Akzeptanz des Risikos. Da der Händler sich mit seinem Risiko nicht wohl fühlt, versucht er alles mögliche, um seine Nervosität zu reduzieren.

Eine der wichtigsten Herausforderungen für Händler besteht darin, einfach das Risiko zu akzeptieren, anstatt ständig weiter an der Handelsstrategie herumzufeilen. Indem sie ihre Strategie vereinfachen und akzeptieren, können sie Vertrauen in ihren Ansatz gewinnen. Erst wenn man über Vertrauen und Erfahrung verfügt und das Risiko bewusst akzeptiert, kann man sich auf den Kursverlauf konzentrieren. Man muss sich nicht mehr ständig Gedanken über Verlustgefahr und zweifelhafte Indikatorensignale machen.

KISS - Keep It Simple, Stupid
Gerade für diejenigen, die sich auf aktives Daytrading an liquiden Märkten fokussieren, kann es sehr vorteilhaft sein, ihre technischen Signale zu reduzieren, indem sie einfache Charts verwenden. Ein simpler Linienchart kann helfen, Ablenkungen auszuschalten und sich auf den Entscheidungsprozess zu konzentrieren. Viele empfinden den Vorschlag auf Indikatoren zu verzichten aber sogar als Angriff. Sie haben viel Zeit darauf verwendet, die Technische Analyse zu studieren und sind zu wahren Experten im Gebrauch der Werkzeuge und Indikatoren geworden, die die Softwarepakete heute anbieten. Wenn diese Leute schließlich so frustriert sind, dass sie einen Berater aufsuchen, sind sie gewöhnlich der Meinung, dass ihnen irgendein geheimer Indikator oder eine Taktik fehlt, die sie noch entdecken müssten. Anstatt ihren technischen Input zu reduzieren, sind sie immer noch auf der Suche nach einem weiteren Werkzeug. Weniger ist manchmal mehr. Aber gerade das fällt vielen schwer zu akzeptieren, da ihnen damit klar wird, dass sie eine Menge Zeit verschwendet haben. Je mehr man aber mit traditionellen Handelsansätzen und Situationen vertraut ist, desto höher sind die eigenen Chancen, gegen die Masse erfolgreich zu traden. Man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit der Akteure auf jedem Markt zu den Verlierern gehört. Versteht man traditionelle Techniken und damit das, woran sich die Masse der Marktteilnehmer orientiert, kann man die richtigen Ein- und Ausstiegspunkte ausfindig machen. Je mehr man über die Motivation und Denkweise der Masse weiß, desto höher ist der eigene Vorteil (und desto mehr Geld erhält man von den Verlierern).

Verpasste Chancen
Folgendes Beispiel verdeutlicht die Unterschiede in der Chartdarstellung anhand des 5-Minuten Chart des S&P 500 E-Mini. Diese Darstellung wurde von einem meiner Kunden benutzt. Seine Signale leitete er vom Stochastic- Indikator ab, wobei diese in einem ausgefeilten Prozess von einer Kombination aus RSI, Momentum und On-Balance-Volume gefiltert wurden (1). Das sind schlicht zu viele Informationen auf einmal und als Ergebnis verpasste er viele Tradingchancen. Da er den Kursverlauf oft gut einschätzte, seine Fähigkeit aber auf Grund der Informationsüberlastung nicht nutzen konnte, war die emotionale Belastung groß. Deshalb verlor er seine Disziplin. Ihm unterliefen größere Fehler, weil er das Gefühl hatte, sich die verpassten Gewinne zurückholen zu müssen. Dieser Teufelskreis verbaute ihm die Möglichkeit, konstant Gewinne zu machen und ließ ihn in ein Stadium großer Frustration und konstanten Stresses fallen.

Mein erster Ratschlag war simpel: Er solle alle technischen Ablenkungen ausblenden und sich nur auf die Kursmuster konzentrieren, die sich um wichtige Widerstände und Unterstützungen ausbilden (2). Es war erstaunlich, wie sich seine Wahrnehmung nun veränderte. Wir beobachteten einen Tag lang gemeinsam sein Handelsverhalten und analysierten die Trades, die er basierend auf Indikatorensignalen eingegangen war. Ohne deren Einfluss war er auf einmal in der Lage eine Vielzahl neuer Möglichkeiten zu erkennen: zuerst ein Rallye zu einem Widerstand, dann ein Ausbruch aus einer Konsolidierung und schließlich ein Doppel-Top. Diese Veränderung seiner Wahrnehmung machte ihm deutlich, wie verwirrend sein erster Ansatz gewesen war. Sein Fokus hatte sich vollkommen vom tatsächlichen Kursgeschehen entfernt und so konnte er zahlreiche Chance nicht nutzen.

Liniencharts schaffen Klarheit
Schließlich veränderten wir die Chartdarstellung, indem wir auf Candlesticks verzichteten (3). Durch diese simple Art der Chartdarstellung wurde das Rauschen gefiltert. So wird das Kursgeschehen im intraday Bereich nochmals deutlicher. Ein- und Ausstiegspunkte werden besser und präziser sichtbar.

Die Rallye an den Widerstand ist nun nicht mehr zu übersehen. Der Linienchart wird aber erst richtig interessant, wenn wir einen Blick auf das Ausbruchszenario werfen. Anstatt eines einfachen Ausbruchs aus einer Seitwärtsrange, zeigt der Linienchart ein Doppeltop. Auch wenn der Händler auf eine Bestätigung durch ein höheres Tief wartet, signalisiert der Linienchart ein Long-Signal bereits zwei Punkte vor jedem anderen Einstiegssignal. Auch bei der Short-Gelegenheit, die das Doppel-Top bietet, zeigt der Linienchart einen besseren Einstiegspunkt. Im Candlestickchart war der vom Händler zuerst identifizierte Einstiegspunkt der erste Test des Widerstands bei 1.100. Auch wenn sich dieser Einstieg als durchaus profitabel erweist, kommt es zunächst noch zu einem Rücksetzer an die 1.100, bevor der eigentliche Abwärtstrend beginnt.

Händler, die mit einem Linienchart arbeiten, hätten dieses Doppel-Top nicht vor dem zweiten Test gesehen. Da Liniencharts nur auf den Schlusskursen der jeweiligen Periode basieren, werden kleine Schwankungen eliminiert. Der Markt muss sich also auf einem bestimmten Level länger halten, damit dies auch im Chart erkennbar wird. Wie die Beispiele gezeigt haben, kann man gerade dadurch elegantere Einstiege ausfindig machen. Nachteile aber entstehen, wenn es um das Setzen von Stopp-Loss-Marken geht. Da Liniencharts nicht die jeweiligen Höchst- und Tiefstkurse zeigen, sollte man hier auf Candlesticks- oder Barcharts zurückgreifen.

Zuviel Rauschen?
Gerade für Händler, die viel im Intraday-Bereich operieren, lohnt sich ein Blick auf den Linienchart. Im Intraday-Bereich müssen Entscheidungen sehr schnell getroffen werden und es bleibt wenig Zeit nachzudenken. Ein- und Ausstiegspunkte bieten sich oft nur für kürzeste Zeit an und oft sind die Gewinner diejenigen, die am schnellsten reagieren können. Händler, die ihre Analyse auf das Wesentliche beschränken, müssen weniger Informationen verarbeiten und können somit schneller reagieren als solchen, die unter einer so genannten Analyse-Paralyse leiden. Kürzere Reaktionszeiten, weniger Stress auf Grund verpasster Trades und eine einfachere Trendanalyse machen den Linienchart somit zu einem wichtigen Werkzeug für alle Händler.

KISS - Keep it Simple, Stupid

Zurück geht dieses bekannte Prinzip auf das so genannte Ockhams Rasiermesser: "Ziehe niemals mehr Annahmen heran, als zur Erklärung notwendig sind." William von Ockham (zirka 1285-1349) war ein bedeutender Philosoph des Mittelalters, der mit seinem Grundsatz den wissenschaftlichen Betrieb für Jahrhunderte prägte. Rasiermesser nannte man dieses Prinzip deswegen, weil Ockham damit Platons Bart abschnitt. Damit ist vorallem Platons umständliche Annahme gemeint, wonach hinter allen Dingen so genannte "Ideen" liegen. Praktisch wurden damit aber viele Theorien des Mittelalters von unnötigen, meist religiösem Ballast befreit und eine neues Wissenschaftsverständnis ermöglicht.

Das KISS-Prinzip gilt aber nicht nur für die Wissenschaft; Halten Sie es einfach, für jeden verständlich! (eine zugeben etwas euphemistische Übersetzung) ist eine Devise, die in den vielfältigsten Bereichen des Lebens und der Wirtschaft Anwendung findet. Menschen mögen Dinge, die einfach zu handhaben, zu bedienen oder zu lernen sind. Komplexität entsteht von selbst.
An den Finanzmärkten rückt KISS vor allem bei der Erstellung von Handelssystemen in das Blickfeld. Überoptimierte Systeme, also Handelsstrategien, die zu genau auf Daten der Vergangenheit abgestimmt sind, versagen meist schnell in der Praxis. Versucht man mit vielen Indikatoren und Filtern, das Letzte aus den Parametern herauszuquetschen, wird das System instabil und kann sich dem veränderten Marktumfeld nicht mehr anpassen. Letztlich sind verblüffend einfach gehaltene Handelsstrategien oft die erfolgreichsten.

Natürlich stellt sich das selbe Problem auch bei der Suche nach der geeigneten Chartdarstellung. Gerade Händler, die mit einem Trendfolge-Ansatz arbeiten, kennen das Problem: Wann ist ein Trend eigentlich gebrochen? Während Candlesticks und Barcharts versuchen, einen detaillierteren Blick auf das Kursgeschehen zu ermöglichen, arbeiten Point&Figure- und Renko-Charts genau mit der gegenteiligen Prämisse. Lästiges Rauschen soll soweit wie möglich gefiltert werden, um den "wahren" Trendverlauf sichtbar zu machen.
KISS gehört übrigens auch zu den Empfehlungen des Dalai Lamas für ein erfülltes Leben.

BO YODER
Bo Yoder ist professioneller Händler und Autor des Buches: Mastering Future Trading (McGraw-Hill, 2004). Er schreibt häufig Beiträge in Fachzeitschriften, Webseiten und Newsletter. Yoder ist zudem Vorsitzender der RealityTrader T/A und hält Vorträge auf zahlreichen Trading Expos. Er hat als Trading Mentor und Money-Management-Berater mit Hunderten von privaten und professionellen Händlern gearbeitet. bo@realitytrader.com.

Quelle: Traders-Magazin

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