Ist die EZB auf dem richtigen Weg oder nur auf dem Holzweg?
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Während Fed und Bank of England die Zügel straffen, ist die EZB trotz strammer Inflation im Euroraum noch nicht zu einer echten geldpolitischen Wende bereit. Denn trotz Aufwärtsrisiken geht sie offiziell weiter von längerfristig abflachenden Preissteigerungen aus. Inoffiziell weiß sie, dass nur mit weiter antiautoritärer Erziehung die Überschuldung und der Zusammenhalt Europas gestemmt werden können. Dafür nimmt sie auch den „Preis“ eines strukturellen (Preis-)Stabilitätsverlustes in Kauf.
Am Inflations-Ende wird alles gut, oder?
Angesichts der Rekord-Inflation in der Eurozone - zuletzt 5,1 Prozent - zeigt sich zwar auch die EZB nach ihrer letzten Sitzung Inflations-kritischer. Doch vermeidet sie einen wirklich falkenhaften Eindruck.
Immerhin sind erste helle Silberstreifen am bislang dunklen Inflationshorizont zu erkennen. So wollen z.B. die Halbleiterproduzenten die aktuelle Chip-Knappheit durch eine massive Investitionsoffensive abfedern. Nach der Chipknappheit könnte es im zweiten Halbjahr 2022 allmählich zu einer Gegenbewegung kommen, was den Preisdruck bei Abnehmern z.B. in der Autoindustrie bremst. Auch die Umfrageergebnisse des Informationsdienstleister IHS Markit deuten auf abnehmende Kostenbelastungen wegen abklingender Lieferschwierigkeiten auch im Rohstoffbereich hin.
Argumente für eine grundsätzlich freizügige Geldpolitik liefert der EZB auch die zumindest leicht nachgebende Kerninflation, also ohne die entscheidenden Preistreiber Energie und Nahrungsmittel. Das gibt der EZB und ihrer französischen Präsidentin scheinbar genügend Raum für Laissez-Faire.
Überhaupt sind die Ursache für die hohe Inflation primär angebotsseitige Beschränkungen. Eine straffere Geldpolitik wird kaum dazu beitragen, Container schneller nach Europa zu verschiffen oder die Verfügbarkeit von Rohstoffen und Energie zu erhöhen.
Nicht zuletzt, die Stimmungsaufhellung in der Industrie wird auf Dienstleistungsebene nicht bestätigt. So hat Omikron Anfang des Jahres zu einem starken Rückgang bei Tourismus, Reisen und Freizeit geführt. Demnach ist ein Ende der geldpolitischen Konjunkturförderung noch nicht opportun.
Es kreiste der Zins-Berg und gebar eine Zins-Maus
Trotz der Beendigung des Notaufkaufprogramms der EZB im März wird im zweiten Quartal - wie bereits im Dezember 2021 verkündet - die Kompensation durch konventionelle Anleihekäufe erfolgen. Erst ab dem III. Quartal ist eine Reduzierung neuer Liquidität um insgesamt 25 Prozent geplant. Eine epochale Kehrtwende mit starkem Niederschlag an den Rentenmärkten ist das nicht.
Eine Nuancierung nahm EZB-Präsidentin Christine Lagarde immerhin in puncto Leitzins vor. Bislang hat sie jeder Leitzinserhöhung in diesem Jahr eine Absage erteilt. Davon spricht sie jetzt nicht mehr explizit, um angesichts der Inflationsbeschleunigung kein weiteres Öl ins Feuer des Glaubwürdigkeitsverlustes zu gießen.
Doch als Bedingung dafür müsse laut EZB die Inflation nachhaltig über zwei Prozent bleiben, was angesichts ihrer Inflationsprognosen für 2023 und 2024 von jeweils 1,8 Prozent nicht der Fall ist. Unabhängig davon wäre aber eine Anhebung des Einlagenzinssatzes von aktuell minus 0,5 denkbar, der den Banken ertragsseitig sehr gelegen käme. In der Tat wird an den Märkten bis Ende des Jahres mit einem Zins für Einlagen von Null spekuliert.
Was die EZB nie offiziell sagen würde
Angesichts der Überschuldung Europas sowie der Finanzierung des aktuell fragilen europäischen Zusammenhalts und der wirtschaftlichen Zukunftsthemen Klimaschutz und Infrastruktur genießen System- und Konjunkturfragen Vorrang. Die Preisstabilität dagegen wird stiefmütterlich behandelt: Die Zinsen holen die Inflation nicht ein.
Denn nur so ergibt sich ein Entschuldungseffekt, den die Zinssparer mit fortgesetzter Entreicherung bezahlen müssen.
Ohnehin ist festzustellen, dass die EZB im Gegensatz zur US-Notenbank und Bank of England nicht nur für ein Land, sondern für 19 Euro-Staaten Geldpolitik machen muss. Insofern orientiert sie sich an den schwächsten Gliedern in der Euro-Kette.
Und so wird die EZB die Geldpolitik der restriktiv vorgelaufenen angelsächsischen Notenbanken nicht nachahmen. Dabei nimmt sie in Kauf, dass Zinsvorteile in Amerika den Euro schwach halten und importierte Inflation begünstigen. Für die EZB scheint aber die Exportförderung mindestens gleichwertig zu sein.
Marktlage - Legen europäische Aktien den Turbo ein?
Grundsätzlich spielen sich die Zins- und Renditeängste eher im Kopfkino der Anleger als in der Realität ab. Abseits einer graduellen Stimulusverminderung auf der Sitzung der EZB im März ist keine markante Zinswende zu erwarten.
Daher profitieren Aktien aus der Eurozone zunächst weiterhin von negativen Realrenditen.
Grafik der Woche
Gleichzeitig reduziert sich die Gefahr einer befürchteten Überbewertung von Aktien. In Europa liegen die durchschnittlichen Gewinn- weiter deutlich oberhalb der Staatsanleiherenditen Italiens, die unter allen großen Euro-Ländern am höchsten sind.
Noch eindeutiger ist das Verhältnis der deutschen Gewinn- zur deutschen Umlaufrendite.
Zwar ist die Rendite 10-jähriger deutscher Staatsanleihen nicht mehr negativ. Doch berechnet man ein Aktien-ähnliches Kurs-Gewinn-Verhältnis für den Rentenmarkt, stünde dieses bei ca. 600. Welche deutsche Aktie mit vernünftigem, nicht eingebildetem Geschäftsmodell kann da mithalten? Die Liquiditätshausse der Eurozone mag zwar nicht mehr laufen wie ein Windhund, aber zumindest wie ein Hase.
Daneben stabilisiert sich das fundamentale Aktienumfeld. Gemäß Konsensschätzungen überzeugen Substanzwerte aus den Branchen Konsum und Gesundheit 2022 und 2023 mit robustem Gewinnwachstum. Industriewerten kommen die verbesserte Weltkonjunktur und ein exportfreundlicher Euro zugute. Der verteuert zwar die Importpreise für Vorprodukte. Doch deuten die wenig rosigen Gewinnaussichten für Grundstoffunternehmen darauf hin, dass die Happy Hour hoher Rohstoffpreise ausläuft. Auch Finanz- und Telekom-Werte beenden 2023 ihre Gewinnschwäche.
2022 sollten insbesondere zyklische Aktien aus der Eurozone und Deutschland ihre langjährige Performancelücke zur US-Konkurrenz verkleinern. Eine konsequente Verfolgung der Null-Covid-Strategie in China könnte allerdings zwischenzeitlich zu weltwirtschaftlichen Bedenken führen.
Tatsächlich beeindruckt in Amerika eine vergleichsweise härtere geldpolitische Gangart die Aktienstimmung. Hinzu kommt eine weniger euphorische Industriestimmung.
Zwar entwickelt sich die US-Berichtsaison robust. Doch kommt es dabei auch zu massiven Ausfällen bei „Großkopferten“ wie Meta Platforms (ehem. Facebook), die bei schwächeren Aussichten hemmungslos bestraft werden. Die Zäsur im High-Tech-Sektor zwischen Good, Bad and Ugly läuft.
Angesichts der Zins- und Liquiditätsängste hat sich ebenso die Marktkapitalisierung gelisteter Kryptoanlagen seit ihrem Höhepunkt im November nahezu halbiert. Kryptowährungen und insbesondere der Bitcoin sind per se also kein Allheilmittel zur Risikostreuung. Demgegenüber kann sich Gold in den letzten Wochen wieder verstärkt als wirklich sicherer Hafen präsentieren.
Sentiment und Charttechnik DAX - Warten auf die Bodenbildung
Aus Sentimentsicht deutet die Umfrage der American Association of Individual Investors auf eine klare Überzahl der Pessimisten am US-Aktienmarkt hin. Dies kann man auch als Kontraindikator werten. Bis Klarheit über eine weniger gefährliche Zinswende herrscht, dürften die Schaukelbörsen zunächst anhalten.
US-Fondsanleger haben sich zuletzt defensiv positioniert. Damit wartet viel Geld an der Seitenlinie auf seinen erneuten Einsatz. Sobald sich erste Anzeichen einer belastbaren Bodenbildung zeigen, kommt es zu einer Aktienbefestigung.
Charttechnisch liegen im DAX auf dem Weg nach oben die ersten Widerstände bei 15.510, 15.615 und 15.619 Punkten. Erst wenn die wichtige Barriere bei 15.736 nachhaltig durchbrochen wird, werden die Marken bei 15.760, 15.868 sowie 15.912 in Angriff genommen. Bei Fortsetzung der Kursschwäche warten Unterstützungen bei 15.384, 15.125 und 15.054. Darunter liegen die nächsten Haltelinien bei 14.950, 14.840 und 14.815 Punkten.
Halvers Kolumne
Eine Taube im Falkenkostüm ist noch lange kein Falke
Zurzeit betreibt die Fed klare Mobilmachung gegen die Inflation. Ihr ungewohnt emotionales Kampfgeschrei für Preisstabilität ist tatsächlich so überzeugend, dass die Anlagemärkte in Deckung gehen. Doch macht ein nüchterner Realitäts-Check klar, dass ihrem verbalen Buhei keine entsprechend heldenhaften Taten folgen. Und die EZB ist ohnehin mit der Heilsarmee vergleichbar.
Grundsätzlich kann die Fed als Nr. 1 unter den Notenbanken die ungewohnt hohe Inflation nicht einfach schulterzuckend akzeptieren. Ansonsten riskierte sie einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust. Daher kündigt sie mit viel Tamtam Leitzinserhöhungen und Liquiditätsverknappungen an. Aber wieviel Falkenhaftigkeit muss man der Fed wirklich abkaufen?
Das Inflationsproblem ist vor allem ein Angebotsproblem
Die aktuell hohen Preisraten kommen primär nicht von der Nachfrage- sondern der Angebotsseite. So haben viele Industriebetriebe weltweit während der wirtschaftsschwachen Corona-Zeit keine Vorprodukte mehr bestellt, um kein Lagerkostenproblem zu bekommen. Und in der Folge haben auch die Produzenten von Vorprodukten ihre Hände in den Schoß gelegt. Als dann jedoch die Lockdowns endeten, wollten alle zeitgleich wieder an die Objekte der Begierde kommen. Bei gleichzeitig brüchigen Transportketten konnten die Preise für Grundstoffe und damit die Inflation nur steigen. Nicht zuletzt hat auch der Ukraine-Konflikt bei Öl- und Gaspreisen den Turbo gezündet. Dieses angebotsseitige Inflationsproblem kann die Fed so wenig heilen wie Aspirin einen Beinbruch.
Doch wird sich der sog. „Schweinezyklus“ im Inflationskampf als willkommener Waffenbruder erweisen. Denn wenn etwas wie im Moment knapp ist und insofern gute Preise zu erzielen sind, wird auch mehr produziert. Irgendwann allerdings ist so viel Angebot auf dem Markt, dass die Preise wieder fallen. Es mag noch utopisch klingen, aber Ende des Jahres diskutieren wir auch über eine Schwemme bei Halbleitern. Die Zins-Daumenschrauben muss die Fed insofern gar nicht so stark anziehen.
Kein Kreditwachstum, kein Wirtschaftswachstum
Und dann ist da noch die Kraft des Faktischen, an der selbst die allmächtige Fed ohnmächtig nicht vorbeikommt. Grundsätzlich fußt das Wirtschaftswachstum Amerikas auf einem immer weiter steigenden Kreditvolumen. Es ist wie beim Hochhausbau: Nur, wenn die Statik stimmt, ist das Höherbauen möglich. Verteuerten sich Kredite also zinspolitisch übermäßig, so dass ihr Volumen im Extremfall sinkt, fällt mangels Tragfähigkeit auch die Wirtschaft in die Rezession. Die immer wieder erhobene, ideologiegetriebene Forderung, sich vom Wachstumsbegriff zu „befreien“, ist für Beschäftigung, Wohlstand und sozialen Frieden grober Unfug. Übrigens fehlen dann auch die Erträge, um die zunehmenden Kredite ordentlich bedienen zu können. Hallo Schuldenkrise!
Anlagemärkte dürfen nicht zu Problembären werden
Neben den direkten Reibungsverlusten zu hoher Zinsen für die Wirtschaft, sind die indirekten nicht minder gefährlich. Wie viele Zinserhöhungen halten die Immobilien- und Aktienmärkte als die zwei maßgeblichen Vermögensquellen der Amerikaner aus? Würden die Häuserpreise flächendeckend kräftig nachgeben, wird der gefühlte Verarmungseffekt und die geringere Beleihbarkeit von Onkel Toms Hütte sicher nicht Anreize bieten, sich bald ein neues Auto oder Möbel zu kaufen. In der Tat scheint der US-Immobilienmarkt bereits das Beste hinter sich zu haben.
Apropos Zinsen, sind sie gering, sind sie ein Segen für den Aktienmarkt. Umgekehrt wird ein Fluch daraus. Mittlerweile haben Wertpapierkredite, die bei Kursverlusten erhöhte Sicherheitsleistungen erzwingen, ein fast 13-stelliges Dollar-Volumen erreicht. Es käme zum Zins-Nightmare on Wall Street, wenn steigende Zinsen eine Teufelsspirale aus Kursverlusten, Nachschusspflichten und panischen Aktienverkäufen auslösen. Dann sind selbst die daueroptimistischen Amerikaner vom Stamme Hasenfuß. Und es wäre fatal, wenn die hoffnungsfrohen amerikanischen Neuaktionäre der letzten zwei Jahre - immerhin die Einwohnerzahl von Bayern und Baden-Württemberg - nicht nur desillusioniert dem Aktienmarkt, sondern auch verarmt der Konjunktur den Rücken kehren.
Stabile Finanzmärkte und Wachstum sind untrennbar miteinander verbunden. Insofern muss die Fed ihren Status als Schutzpatronin für die Anleger unbedingt behalten und Abstand nehmen von vehementen zinsseitigen Säkularisierungen.
Die Angst vor der Zinswende ist schlimmer als die Zinswende selbst
Vor diesem Hintergrund und auch aufgrund der schlechten historischen Erfahrungen wird die Fed den Zinserhöhungskrieg nicht auf die Spitze treiben.
Die US-Notenbanker haben es mit einem Optimierungsproblem zu tun. Die Zinsen sind einerseits so anzuheben, dass sie bei der Inflation die gefürchteten Zweitrundeneffekte verhindern. Denn nachhaltige Inflation saugt den Konsumenten ähnlich wie ein Vampir Kaufkraft ab. Immerhin sind die Verbraucher das entscheidende Rückgrat der US-Wirtschaft. Andererseits müssen sie verhalten ausfallen, um die Anlagemärkten nicht an einen Kipppunkt zu bringen.
Und bei der Europäischen Zentralbank muss man sich noch weniger um deutliche Zinsrestriktionen sorgen. Zwar empört sich so mancher Notenbankdirektor wie seine US-Kollegen auch über hohe Preissteigerungen. Die EZB hat aber im Vergleich noch mehr Aufgaben neben der Inflationsbekämpfung zu erfüllen. Unter den Notenbanken ist die EZB so etwas wie der „Thermomix“. Sie muss vor allem die gewaltigen Zentrifugalkräfte in Europa bändigen, um die Länder zusammenzuhalten.
Insgesamt, auch wenn sich die Notenbanken Falkenkostüme anziehen, sind sie dennoch Tauben. Die Anlagemärkte werden früher oder später begreifen, dass trotz zinspolitischem Kriegsgeschrei der Pazifismus grundsätzliche Handlungsmaxime der Geldpolitik bleibt.
Disclaimer beachten!
Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse der Baader Bank AG
Rechtliche Hinweise/Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenskonflikten der Baader Bank AG:
http://www.baaderbank.de/disclaimer-und-umgang-mit-interessenskonflikten/
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