Kommentar
09:43 Uhr, 05.12.2011

Helmut Schmidt Superstar

Es muss sehr ernüchternd gewesen sein für das Trio, das um den Posten des Kanzlerkandidaten schachert: Der Star des Auftakts des SPD-Parteitags war nicht Sigmar Gabriel, Frank Walter Steinmeier oder Peer Steinbrück. Es war Helmut Schmidt, 92 Jahre alt, einst von seiner Partei verjagt und heute so etwas wie ein Polit-Papst.

Beinahe schon ehrfürchtig lauscht die SPD, nein ganz Deutschland, dem schon immer intellektuell brillanten, aber nun auch altersweisen Altkanzler. Und er hat wirklich einiges gehaltvolles zu sagen (seine Rede finden Sie hier), was man von seinen Nachfolgern ja nicht immer behaupten kann.
Schmidt wird mit zunehmendem Alter, je mehr er sich nicht mehr mit dem politischen Tagesgeschäft auseinandersetzen will, immer visionärer. Er, der Prototyp eines Pragmatikers, der Menschen mit Visionen zum Arzt schicken wollte.

Helmut Schmidt begründet seine Vision eines Vereinten Europas doppelt. Die historische Dimension ist natürlich unvermeidlich. Schmidt bemüht dafür nicht nur den Zweiten Weltkrieg, sondern geht bis zum Dreißigjährigen Krieg zurück (1618-1648). Ein einiges Europa als Friedensstifter, von Deutschland darf nie mehr eine Gefahr ausgehen. Mit dieser Argumentation stößt Schmidt bei der Facebook-Generation allerdings auf taube Ohren, und das dürfte nicht nur für Deutschland gelten, sondern auch für den Rest Europas. Wenn in 20,30 Jahren die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs gestorben sind, wird die Bedeutung dieser historischen Begründung endgültig fallen. Weder fühlen junge Deutsche Schuld (nicht zu verwechseln mit Verantwortung) für die unglaublichen Verbrechen der Nazizeit, noch gibt es in den Reihen der jungen Europäer ernstzunehmende Bewegungen, die Deutschen ewig büßen lassen wollen. Der Friede in Europa ist selbstverständlich geworden, zum Glück. Um die Menschen von der Notwendigkeit eines noch tiefergehenden Einigungsprozesses zu überzeugen, bedarf es also deutlich mehr Input.

Das ist Schmidts zweiter Ansatz: Die schrumpfende Signifikanz Europas in der Welt, und die noch viel stärker fallende Bedeutung der Nationalstaaten aufgrund des immensen Bevölkerungswachstums weltweit und dem rasanten Aufstieg der BRIC-Staaten. In Schmidts Augen kann die Antwort auf diese Entwicklung auf keinen Fall die rückwärtsgewandte Stärkung des Nationalstaats sein, sondern dessen langfristige Aufgabe. Oder anders gesagt: Wenn wir in Zukunft in Sachen Weltpolitik noch etwas mitreden wollen, dann kann dies schon alleine aufgrund der schieren Größenverhältnisse nur im Rahmen eines Vereinigten Europas erfolgen.

Eine Frage stellt Schmidt aber gar nicht erst: Sollen und wollen wir das überhaupt - in der Weltpolitik mitmischen? Aus der historischen Dimension heraus mag es für die Politikergeneration Schmidts gar nicht nötig oder sogar verpönt zu sein, eine echte Legitimation durch das Volk einzuholen. Dass er diesen Punkt generell nicht gerade überbewertet, zeigt auch seine immer unverhohlener demonstrierte Bewunderung für Chinas Aufstieg. Der Altkanzler hat mehrfach argumentiert, wir könnten den Asiaten nicht unsere westlich-demokratische Sichtweise aufzwängen. Das mag zunächst schlüssig klingen, aber daraus eine Gleichwertigkeit der Systeme abzuleiten wäre fatal: Es ist erst gut 20 Jahre her, dass Demonstranten in China von Panzern niedergewalzt wurden. Und auch heute darf die ökonomische Liberalisierung nicht darüber hinwegtäuschen, dass China von einer Clique von Diktatoren ohne irgendeine Art der Legitimation – außer der Macht des Faktischen - regiert wird.

Auch einem zweiten Aspekt der Schmidt´schen Argumentation kann man nicht ganz folgen: Der Euro habe gar keine Krise, sondern das sei „dummes Geschwätz“ von Journalisten und Politikern. Originalton Helmut Schmidt auf dem Parteitag. Der Respekt vor der Weisheit eines 92-jährigen verbietet es den meisten, genau diese Aussage ebenso als dummes Geschwätz zu bezeichnen.

Trotz angebrachter Kritik: Helmut Schmidt war und ist ein brillanter analytischer Geist. Es wäre schön, wenn wir noch aktive Politiker seines Kalibers hätten.
Andererseits muss man froh sein, dass sich Schmidt aus dem Tagesgeschäft verabschiedet hat. Die ökonomische Bilanz seiner Kanzlerschaft (1974-1982) ist sehr ernüchternd. 1981, kurz vor seinem Abgang, erreichte die Inflationsrate 6,3%. "Lieber 5% Inflationsrate als 5% Arbeitslosenquote" lautete sein Motto. Dass beides möglich sein könnte – niedrige Inflation und niedrige Arbeitslosenquote – hielt er für nahezu undenkbar. Er ist eben doch kein Visionär.

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Über den Experten

Daniel Kühn
Daniel Kühn
Freier Finanzjournalist

Daniel Kühn ist seit 1996 aktiver Trader und Investor. Nach dem BWL-Studium entschied sich der Börsen-Experte zunächst für eine Karriere als freier Trader und Journalist. Von 2012 bis 2023 leitete Daniel Kühn die Redaktion von stock3 (vormals GodmodeTrader). Seit 2024 schreibt er als freier Autor für stock3.
Daniel Kühn interessiert sich vor allem für Small und Mid Caps, Technologieaktien, ETFs, Edelmetalle und Kryptowährungen sowie für makroökonomische Themen.

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