Nachricht
12:05 Uhr, 23.01.2024

Experten: Unabhängigkeit von Erdgasimporten realistisch und bezahlbar

Von Andreas Kißler

BERLIN (Dow Jones) - Ein Expertengremium hat ein Konzept vorgelegt, um die Abhängigkeit von Erdgasimporten deutlich zu verringern. Der Fachrat Energieunabhängigkeit habe eine umfassende Finanzierungsstrategie erarbeitet, "mit der Deutschland seine Abhängigkeit von Erdgas um 78 Prozent reduzieren kann", sagte Jonathan Barth, der Sprecher des Fachrats und Politische Direktor des ZOE Instituts für zukunftsfähige Ökonomien, das den Fachrat ins Leben gerufen hat. "Die gute Nachricht, die Lösung von Erdgas ist technisch machbar. Die Technologien sind da, und es ist relativ klar, wo angesetzt werden muss", sagte er. Die Unabhängigkeit von Erdgasimporten sei "realistisch und bezahlbar". Der Großteil der 78 Prozent komme aus der Umstellung der Wärmeversorgung.

Barth betonte, eine neue Bewertung der Energiepolitik bedeute auch zu prüfen, wie Investitionen in die Wärmeerzeugung ohne Erdgas beschleunigt werden könnten. Zur Wärme in Gebäuden seien nach Überzeugung des Fachrats die Potenziale von Wärmecontracting bisher unterschätzt worden, bei dem sich ein Wohnungsbesitzer nicht eine Wärmepumpe oder eine andere erdgasfreie Heizungsanlage selbst kauft, sondern sie sich von einem Energiedienstleister leiht. Dies könne auch ein neues Geschäftsmodell für Stadtwerke sein. Weitere Vorschläge umfassen ein Wärme-für-alle-Programm und Praxischecks für die Wärmewende, die die Rolle von Wohnungsunternehmen stärken sollten.

"In der Industrie können wir mit nur 10 Milliarden Euro den Verbrauch an Erdgas halbieren", erklärte Barth zudem. Das gelinge, indem Anlagen wie Industrieöfen und Heizkessel umgestellt würden. Um den Wandel zu erdgasfreier Wärme zu beschleunigen, sei es wichtig, "Vorreiterunternehmen" zu mobilisieren. Dazu soll nach den Vorschlägen eine "Industriewende-Beschleuniger-Plattform" dienen, die die Wirkung von bestehender öffentlicher Förderung hebele.

Das interdisziplinäre Expertengremium stellt in seinem Bericht auch Vorschläge zur Finanzierung in den Mittelpunkt. "Die Rolle des Finanzsystems im Rahmen der Sicherstellung der erdgasfreien Zukunft ist eine enorme", sagte die Geschäftsführerin des Sustainable Finance Cluster Germany, Kristina Jeromin. Aktuell seien Risiken, die aus Energieschocks oder steigenden CO2-Preisen entstehen, nicht adäquat in den Investitionsplänen und Kreditvergabeplänen eingepreist. "Das heißt, die Verantwortung, die wir seitens der Privatwirtschaft im Rahmen der Finanzierung erwarten, kann aktuell nicht vollumfänglich wahrgenommen werden."

Das Gremium schlägt laut Jeromin unter anderem vor, dass die Europäische Zentralbank ein zeitlich begrenztes Programm auflegt, um Investitionen in eine erdgasfreie Zukunft zu unterstützen im Rahmen eines Zinserlasses, "also Zinsen als Hebel für den sicher finanzierten Strukturwandel". Insgesamt müsse zudem eine "standardisierte Sprache" zwischen Realwirtschaft und Finanzbranche etabliert werden, mit verbindlichen, sektoral ausgearbeiteten Transitionsplänen. Um das Kapital aus der Privatwirtschaft zu mobilisieren, seien auch "klare Impulse seitens der öffentlichen Hand" nötig, die impulssetzende Investitionen tätigen müsse.

Kontakt zum Autor: andreas.kissler@wsj.com

DJG/ank/brb

Copyright (c) 2024 Dow Jones & Company, Inc.