Evergrande: Eine Art „China-Schock“?
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Die erwartete Umschuldung von Chinas zweitgrößtem Immobilienentwickler ist nicht überraschend, einige der Reaktionen jedoch schon.
In den letzten 20 Jahren hat sich China zu einem immer wichtigeren Antriebsfaktor der Weltwirtschaft entwickelt. Der Begriff „China-Schock“ beschrieb zunächst die Auswirkungen der steigenden chinesischen Exporte nach Nordamerika und Europa nach dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001. Zunehmend wird er auch als Erklärungsvariable für alle möglichen anderen Veränderungen verwendet, von regionalen Wirtschaftsentwicklungen in den USA bis hin zum Wahlverhalten. In finanzieller Hinsicht waren die von China ausgehenden Turbulenzen jedoch relativ selten und quantitativ überschaubar. Nach den Ereignissen der letzten Monate und zuletzt am Wochenende macht sich nun die Angst vor einer weiteren Ansteckung breit. Am Montag sank der Hang Seng Index in Hongkong um 3,3 Prozent und der Euro Stoxx 50 verlor bis zum frühen Nachmittag fast drei Prozent.
Zumindest im Moment scheint das in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Situation zu stehen. Der jüngste Ausverkauf wurde durch die drohende Umschuldung von Evergrande, Chinas hoch verschuldetem und zweitgrößtem Immobilienentwickler (Verbindlichkeiten in Höhe von ca. USD 300 Mrd.), ausgelöst. Diese Probleme sind weder neu noch überraschend. Zwischen 2014 und 2018 ist die Verschuldung der Immobilienentwickler rasant gestiegen. Bei Evergrande wurde dies auch durch die Expansion in andere Geschäftsbereiche verursacht (von einer Fußballmannschaft und einer Akademie bis hin zu Mineralwasser und Elektrofahrzeugen).
Die jüngste Krise begann, als die chinesische Regierung restriktive Maßnahmen ergriff, um die Schuldenlast im Immobiliensektor zu verringern, beziehungsweise zu begrenzen. Auch dies ist nicht überraschend und dauert schon eine ganze Weile an. Seit dem Sommer haben die schwachen Immobilienpreise und die schwächeren Immobilienkäufe infolge der staatlichen Restriktionen die Situation verschärft, so dass Evergrande seine Zinszahlung am 20. September ausfallen ließ. Sowohl die Aktien als auch die Anleihen anderer hoch verschuldeter chinesischer Immobilienentwickler wurden in den letzten Monaten ebenfalls unter Beschuss genommen - was wiederum verdeutlicht, dass das Potenzial eines Kreditereignisses, das von diesem Segment ausgeht, für die meisten Marktteilnehmer kaum als große Überraschung gelten kann.
Ein Großteil der unmittelbaren negativen Nachrichten dürfte bereits eingepreist sein. Dennoch bleibt die Situation ungewiss, und könnte weitere Ereignisse nach sich ziehen.
Wie erklären sich dann die relativ heftigen Marktreaktionen? Ein Teil des Grundes könnte technischer Natur sein. Die meisten asiatischen Märkte waren am Montag geschlossen, mit Ausnahme von Hongkong. Es bleibt abzuwarten, wie die breiteren chinesischen Märkte am Dienstag reagieren werden. Und obwohl wir der Meinung sind, dass das wahrscheinlichste Szenario nach wie vor eine recht geordnete Umschuldung anstelle von Zahlungsausfällen oder -verzögerungen ist, könnte die Sorge um eine bevorstehende Anleihezahlung am Donnerstag die Nerven weiter strapazieren.
In jedem Fall gehen wir davon aus, dass die Priorität der chinesischen Behörden darin liegen dürfte, das Ausmaß sozialer Unruhen, und nicht das Ausmaß der Marktkorrekturen zu begrenzen. Beides schließt sich nicht gegenseitig aus, aber wenn es in Bezug auf das Timing zu Kompromissen kommt, dürfte Ersteres überwiegen. Chinesische Bauträger verlangen von Hauskäufern in der Regel hohe Vorauszahlungen, oft ein oder zwei Jahre vor der Fertigstellung eines Projekts, die einen Großteil der Ersparnisse der Hauskäufer ausmachen. Das sind die Gläubiger, die den chinesischen Entscheidungsträgern am meisten am Herzen liegen dürften. Wir würden erwarten, dass die Behörden auf regionaler oder kommunaler Ebene eingreifen, um solche Projekte zu übernehmen und zu gegebener Zeit abzuschließen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass solche Maßnahmen über Nacht organisiert und durchgeführt werden können.
Dennoch hat die chinesische Regierung (vor allem auf zentraler Ebene) ein starkes Interesse daran, das negative Szenario groß angelegter Zwangsverkäufe zu vermeiden. Denn dies könnte zu Dominoeffekten führen, an deren Ende viele chinesische Haushalte finanzielle Einbußen hinnehmen müssten. Schließlich stehen Wohlstand und soziale Sicherheit derzeit im Mittelpunkt der chinesischen Politik, insbesondere im Vorfeld des 20. nationalen Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im nächsten Jahr.
Zu bedenken ist auch, dass das direkte Engagement ausländischer Anleiheinhaber bei Evergrande relativ bescheiden zu sein scheint. Selbst unter den inländischen Banken sollte das Engagement ziemlich breit gestreut zu sein, und die hohe Verschuldung dürfte bereits zu hohen Abschreibungen geführt haben, was weitere Schieflagen vielleicht begrenzen könnte. Einzelne kleinere Banken könnten stärker betroffen sein, d. h. das Volumen ihrer notleidenden Kredite könnte erheblich ansteigen. Allerdings sind chinesische Banken und Finanzinstitute auch stark bei den Zulieferern von [Evergrande/dem Unternehmen] engagiert.
Dies verdeutlicht das Potenzial für Dominoeffekte. Die Investitionen chinesischer Banken in Evergrande wäre für sich genommen überschaubar, aber nicht, wenn andere auch noch in Mitleidenschaft gezogen werden. Zudem würde eine Verschlechterung der Wachstumsprognosen die Stimmung weiter verschlechtern, nicht nur bei den chinesischen Immobilienkäufern.
Darüber hinaus treffen die jüngsten Nachrichten aus China auf einen Markt, der sich gerade auch mit anderen Herausforderungen konfrontiert sieht. Seien es die anhaltenden Probleme in den globalen Lieferketten oder der stark steigende Erdgaspreis. Infolgedessen ist nun eine Verlangsamung der Wirtschaftsdynamik zu beobachten, die bereits zu ersten Abwärtskorrekturen globaler Wachstumsprognosen durch Marktexperten geführt hat.
Auswirkungen auf die Anlageklassen
Anleihen und Währungen: Wir sind schon seit geraumer Zeit gegenüber Schuldtiteln chinesischer Bauträger äußerst vorsichtig, insbesondere gegenüber den risikoreicheren, hochverzinslichen Titeln. Wir sehen keinen Grund, diese Haltung angesichts der jüngsten Entwicklungen zu ändern. Was asiatische Anleihen mit Investment-Grade-Rating betrifft, so werden wir die Ereignisse und Marktbewegungen in den kommenden Tagen und Wochen genau beobachten. Sicherlich könnte es vor einer Erholung attraktive Einstiegspunkte geben, aber das bleibt ein Thema für die mittelfristige Zukunft. Wir ändern auch nicht unsere Empfehlungen für die wichtigsten Währungen.
Aktien: Die Schwierigkeiten der Immobilienentwickler folgen auf das harte Durchgreifen Chinas gegen seine Technologiechampions und Online-Nachhilfeanbieter in den letzten Monaten, gerade als die chinesischen Aktien Anzeichen einer Stabilisierung zeigten. Unserer Meinung nach ist es aktuell noch zu früh, auf eine Trendwende zu setzen. Auf jeden Fall erinnern die jüngsten Ereignisse daran, dass bei Investitionen in China eine sorgfältige Auswahl sowohl auf Sektor- als auch auf Emittentenebene von entscheidender Bedeutung ist und dass dabei auch allgemeinere politische Erwägungen berücksichtigt werden müssen.
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