Kommentar
20:00 Uhr, 24.06.2008

Europa in der Krise

Wir haben offene Grenzen, wir haben den Euro, wir treffen uns regelmäßig in Tausenden von Institutionen. Wir haben Europa. Siehe Eurovisions-Song-Wettbewerb, siehe Europameisterschaft im Fußball. Weshalb also aufregen, dass vor einigen Jahren Europas Verfassung an Frankreich und den Niederlanden scheiterte oder jetzt der europäische Vertrag im Referendum in Irland. Was da jetzt passierte, kümmert kaum die Verantwortlichen in Irland oder die europäischen Institutionen in Brüssel. Ja selbst die Finanzmärkte übergehen diese politische Entscheidung, so als ob nichts gewesen wäre. Der Euro bleibt massiv überbewertet. Zinsperspektiven und Aktienbewertungen werden nicht angepasst. Also alle Anzeichen sagen: das Irland-Votum ist ein Nicht-Ereignis.

Ich stimme dieser Einschätzung gar nicht zu. Europa kann als ein Club von fast 30 Mitgliedern nicht auf der Basis des Nizza-Vertrags geführt werden. Die dort festgelegten Entscheidungsprozeduren passen für einen homogenen Verein mit maximal 10 Mitgliedern, nicht für ein heterogenes Europa von vielen kleinen und kleinsten und einigen mittelgewichtigen Nationen. Für die Herausforderung an der Gestaltung einer Weltordnung mitzuwirken in herausfordernden Zeiten mit ganz verschiedenen demografischen Perspektiven (Alterung und Schrumpfung hier und Dynamik in Schwellenländern) in einer sich immer rascher wandelnden Welt – charakterisiert durch beschleunigte Wissensproduktion und immer intensivere Globalisierung – ist Europa nicht gebaut. Wir preisen unsere Vielfalt und verschenken unseren Einfluss auf der internationalen Bühne. Wir sind glücklich als notorische Besserwisser und als moralisch Überlegene. Uns reichen unsere guten Absichten und es reicht uns diese in lokalen Zirkeln zu äußern. Auf konkludentes Handeln, gar auf Durchsetzung von wichtigen und guten Dingen im internationalen Kontext, oder gar die Schaffung von dafür nützlichen Institutionen lassen sich Krämerseelen und Provinzpolitiker nicht ein.

Europa stirbt seit dem Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 jeden Tag ein bisschen mehr. Seit Delors und Genscher, seit Mitterand und Kohl ist Europa ein Integrationsmuffel. Und die Generation meiner Kinder sagt: macht nichts.

Europas Integration ist niemandes Baby. Die Kriegsgeneration ist tot oder müde und ausgeschieden. Die Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler von heute leben wie selbstverständlich im Europa ihrer Mütter und Väter. Sie sind sich weder des kulturellen, geistigen und architektonischen Schatzes bewusst, den sie hüten für künftige Generationen. Und sie leben zumeist narzisstisch in den Tag hinein, sie empfinden nicht, dass sie eine Bringschuld der Welt gegenüber haben. Wir Europäer sind es die in vielfältiger Weise Stadtkultur exportieren sollten und Liebe zur Natur. Niemand will dafür arbeiten in diesen Feldern geostrategisch zu wirken.

Wir sind uns nicht bewusst, dass wir dafür die richtigen wirkungsvollen Institutionen bauen müssen. Europa braucht für die Größenordnung „Klub von 30 Nationen“ eine sachgemäße demokratische Struktur, es braucht verständliche und effektive Entscheidungsprozeduren, es braucht nach innen und nach außen Stimme und Gesicht. Viele Verfassungsmodelle existieren. Es ist offenkundig, dass uns eine präsidiale Verfassung à la USA nicht steht. Aber warum nicht von den vielsprachigen, kantonalen Schweizern lernen. „Verschweizern“ wäre mein Rat für die Verfassung Europas.

Und der europäische Klub muss lernen, dass das Haus Europas immer im Bau sein wird. Die Frage nach der Finalität Europas ist so verständlich wie sie allen geschichtlichen Erfahrungen widerspricht. Aber an einem kann und darf nicht gerüttelt werden, der Würde des Menschen, den Menschenrechten und der konstitutiven Toleranz den verschiedenen Weltanschauungen und Religionen gegenüber. Diese Toleranz darf indes nicht auf Unkenntnis und Indifferenz den religiös/philosophischen Haltungen gegenüber aufbauen, sondern sie muss sich aus Neugier und Offenheit speisen.

Quelle: Deutsche Bank Research
Autor: Norbert Walter

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