Kommentar
14:06 Uhr, 09.09.2016

Eher werden die Streuobstwiesen unkrautfrei als die EZB restriktiv

Trotz schwacher Konjunktur- und Inflationsprognosen hat die EZB auf ihrer letzten Sitzung keine weitere Zinssenkung und/oder liquiditätserhöhenden bzw. -verlängernden Maßnahmen beschlossen. Die Aktienmärkte reagierten enttäuscht, hatten sie doch mit mehr Stimulus gerechnet. Wie kann man diese Untätigkeit der Notenbanker interpretieren? Ist sie temporär oder struktureller Natur? Wie sieht der weitere geldpolitische Weg der EZB aus und welche real- und finanzwirtschaftlichen Konsequenzen sind damit verbunden?

Denn eins ist sicher: Die Konjunkturskepsis der EZB. Während sie die Wachstumsprojektionen für 2016 (1,7 statt 1,6 Prozent) leicht angehoben hat, fallen sie für 2017 und 2018 (jeweils 1,6 statt 1,7) schwächer aus. Ohnehin sollten diese ad hoc ermutigenden Wachstumsraten nicht überinterpretiert werden. Es handelt sich um Basiseffekte wie z.B. infolge des sprunghaften Anstiegs des Tourismus in Spanien. Auch sollte nicht vergessen werden, dass Italien und Spanien ihre Vorkrisen-Wirtschaftsleistung von vor 2008 immer noch nicht wieder erreicht haben.

Und über weitere konjunkturelle Reibungsverluste durch das Brexit-Votum - das seine negative Wirkung nicht kurz- sondern mittelfristig offenbart - und die Abwärtsrisiken in den Emerging Markets, die mit neuer Sachlichkeit umschrieben werden können, ist sich die EZB sehr bewusst.

Geradezu erbärmlich sind die Misserfolge der EZB im Kampf um Reflationierung. Selbst die bereits gesenkten Inflationsprojektionen für 2017 (1,2 statt 1,3 Prozent) werden von der EZB mit Abwärtsrisiken behaftet. Der fehlende Lohndruck und die mangelnde volkswirtschaftliche Preisdurchsetzungskraft der Unternehmen kommen auch in einer schwachen Kerninflationsrate - also ohne Berücksichtigung von Nahrungsmitteln und ohne die seit zwei Jahren deflationierenden Energiepreise - zum Ausdruck. Sie befindet sich seit Oktober 2015 in einem volatilen Abwärtstrend.

Inflationsperspektivisch bietet sich sogar ein noch dramatischeres Bild. Die 5-jährigen Inflationserwartungen der Eurozone in 5 Jahren befinden sich auf einem Allzeittief. Anleiheaufkäufe der EZB im Volumen von mittlerweile über eine Billion Euro haben also keine Trendwende gebracht.


Warum bleibt die EZB untätig?
Vor diesem Hintergrund fragt man sich, warum die EZB aktuell nicht noch mehr zins- und/oder liquiditätspolitische Dynamik an den Tag legt. Einerseits ist zu vermuten, dass sie ihr Pulver vor der Sitzung der Fed am 21. September trocken halten will. Ansonsten könnten neue geldpolitische Impulse verpuffen. Andererseits will sie den Finanzmärkten nicht „nach dem Mund reden“, ihnen nicht das geben, was sie wollen. Natürlich weiß sie, dass ihre Geldpolitik - ihre Liquiditätshausse - in Ermangelung von harten positiven Fundamentaldaten das Wohl und Wehe von Entwicklungen an den Finanzmärkten schwerpunktmäßig bestimmt. An der Illusion der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit will sie dennoch festhalten.

Geldpolitisch aufgeschoben, ist nicht geldpolitisch aufgehoben
Außer einem moralischen Zeitgewinn wird sie aber wenig gewinnen. Spätestens auf der letzten Sitzung der EZB in diesem Jahr am 8. Dezember dürften sich die bisherigen Konjunkturprognosen der EZB als zu optimistisch erweisen. Ihr Anleiheaufkaufprogramm wird sie dann über März 2017 hinaus verlängern. Da sich das Volumen aufkaufbarer Staatspapiere zunehmend verknappt, ist sie zudem gezwungen, ihre Kaufrestriktionen zu lockern, wonach nur Anleihen mit einer Rendite oberhalb des Einlagensatzes von minus 0,4 Prozent zu erwerben sind.

Für eine nur unterbrochene geldpolitische Offensive spricht auch, dass ein Komitee bei der EZB gegründet wurde, dass die Wirkung der bisherigen Instrumente der Notenbank auf die Konjunktur untersuchen soll. Da der realwirtschaftliche Erfolg arg zu wünschen übrig lässt, könnte dieser Expertenkreis neue Maßnahmen ausarbeiten, um die Volkswirtschaften der Eurozone mit noch mehr zinsgünstiger Liquidität zu versorgen.

Selbst eine Sintflut an Liquidität wird keine blühenden Euro-Landschaften hervorbringen
Doch selbst eine noch gewaltigere Liquiditätsausstattung wird realwirtschaftlich weitgehend verpuffen. Zunächst behindert die allgemeine politische Verunsicherung - Eurosklerose - und das Angstsparen Konsumenten und Investoren in ihrem Ausgabe- und Investitionsverhalten.

Ein bedeutenderes Handicap ist jedoch auch die mutlose europäische Wettbewerbspolitik. Es fehlt der attraktive Nährboden, der internationale Unternehmen freiwillig veranlasst, in der Eurozone zu investieren. Es gibt zu viel Bürokratie und keine Bereitschaft, Standorte über Reformpolitik auf ein Niveau zu bringen, damit sie industriell weltweit konkurrenzfähig sind. Nicht zuletzt tun sich die Euro-Staaten bei Infrastrukturinvestitionen (Logistik, Energiewende, Digitalisierung, Bildung) sehr schwer. Damit fehlen staatliche Vorleistungen, die Investitionsrisiken der Privatwirtschaft mindern.

Dagegen unternehmen Staaten in Asien und Amerika alles, um die Herausforderungen der industriellen Digitalisierung erfolgreich zu bestehen. Dort weiß man sehr genau, dass man damit den etablierten europäischen Industriezentren massiv Paroli bietet. Die Gefahr, dass Europa den Anschluss verliert, ist groß.

Gerade Deutschland hat einen hohen finanzpolitischen Spielraum für infrastrukturelle Investitionen. Die Kreditaufnahme bis einschließlich Anleihelaufzeit von 10 Jahren ist nicht mit staatlichen Zinskosten, sondern mit Zinsgewinnen verbunden. Da die EZB nach Aufkaufschlüssel insbesondere deutsche Staatspapiere erwerben muss, hat der Bund insgesamt weder ein Finanzierungs- noch Absatzproblem. Wenn nicht jetzt, wann dann soll in die marode deutsche Infrastruktur und in die Digitalisierung der Industrie investiert werden, die nachhaltig zu enormen Wirtschaftsimpulsen mit Arbeitsplätzen, Konsum und Steuereinnahmen führt.

Beweis der Konjunktur-Malaise in der Eurozone ist die nach wie vor schwache Kreditvergabe an Unternehmen und private Haushalte.


Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Liquiditätshausse bleibt das (Un-)Wort an den Aktienmärkten
Momentan lässt die angeschlagene Konjunkturverfassung in Europa die Anleger ziemlich kalt. An die Stelle fehlender fundamentaler Argumente für steigende Aktien in der Eurozone ist die Liquiditätshausse als maßgebliches „Killerargument“ getreten. Der „Draghi-Effekt“ ist ein Beruhigungsfaktor, eine Versicherung gegen Aktienkurseinbrüche. Dieser Rolle ist sich die EZB auch sehr bewusst. Sie weiß, dass eine geldpolitische Zurückhaltung über schlechte Aktienstimmung auch das realwirtschaftliche Klima belastet. Die EZB bleibt ohnmächtig dazu gezwungen, an den Finanzmärkten allmächtig zu sein.

Liquiditätsausstattung der Eurozone und Aktienindex Eurozone




Dabei spielt auch die Fed nicht den Spielverderber. Der „datenabhängigen“ Fed gehen die zinserhöhungsrelevanten Daten aus. Insgesamt zeigt sich die US-Konjunktur bei genauerer Betrachtung weniger robust als gemeinhin angenommen. So hat sich nicht nur das Klima im Verarbeitenden Gewerbe sondern zuletzt auch im US-Dienstleistungssektor dramatisch von zuvor 55,5 auf 51,4 - der niedrigste Stand seit Februar 2010 - zurückgebildet. Vor allem die Neuauftrags- aber auch die Beschäftigungskomponente - der neuralgische Punkt der Datenabhängigkeit - zeigen Schwäche.

Dabei spielt auch die Fed nicht den Spielverderber. Der „datenabhängigen“ Fed gehen die zinserhöhungsrelevanten Daten aus. Insgesamt zeigt sich die US-Konjunktur bei genauerer Betrachtung weniger robust als gemeinhin angenommen. So hat sich nicht nur das Klima im Verarbeitenden Gewerbe sondern zuletzt auch im US-Dienstleistungssektor dramatisch von zuvor 55,5 auf 51,4 - der niedrigste Stand seit Februar 2010 - zurückgebildet. Vor allem die Neuauftrags- aber auch die Beschäftigungskomponente - der neuralgische Punkt der Datenabhängigkeit - zeigen Schwäche.

Mittlerweile spricht selbst die Fed in ihrem Konjunkturbericht - Beige Book - von einem weniger stabilen Arbeitsmarkt. Für Zinserhöhungsphantasie ist da wenig, sehr wenig Platz.


Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 - Neue Hausse oder zurück in die Baisse?
Charttechnisch warten im DAX auf dem Weg nach oben die ersten Widerstände bei 10.743 und 10.802 Punkten. Darüber liegt die nächste nennenswerte Barriere bei 11.154. Unterschreitet der DAX auf dem Weg nach unten hingegen die Unterstützungen bei 10.635 und 10.406 Punkten, gibt zunächst die Kurslücke zwischen 10.403 und 10.374 Halt. Darunter folgen eine schwache Unterstützung bei 10.340 und schließlich die Auffangzone zwischen 10.123 und 10.077 Punkten.

Im Euro Stoxx 50 liegen auf dem Weg nach oben die nächsten Barrieren bei 3.106 und 3.137 Punkten. Darüber liegt die nächste nennenswerte Hürde am seit April 2015 bestehenden Abwärtstrend bei derzeit 3.242. Auf der Unterseite liegt eine erste Unterstützung bei 3.062 Punkten. Darunter bietet die Zone zwischen 3.050 und 3.000 Halt, gefolgt von Auffanglinien bei 2.970 und 2.950 Punkten.

Der Wochenausblick für die KW 37 - US-Konjunkturdaten bleiben zinserhöhungsunkritisch
In China deutet eine unveränderte Industrieproduktion auf schwache Konjunkturimpulse hin.

In den USA zeichnen ein auf niedrigem Niveau stabilisierter Einkaufsmanagerindex der Fed von Philadelphia und eine rückläufige Industrieproduktion ein verhaltenes Bild der US-Industrie, während auch die US-Binnenwirtschaft gemäß stagnierender Einzelhandelsumsätze und einer nahezu unveränderten Konsumentenstimmung der University of Michigan kein zinserhöhungsverdächtiges Konjunkturbild liefert. Auch die weiterhin zurückhaltenden Inflationsdaten haben keine Zinserhöhungsrelevanz.

In der Eurozone unterstützen die erneut schwachen Inflationsdaten für August die liquiditätspolitischen Lockerungsmaßnahmen der EZB, während in Deutschland die ZEW Konjunkturerwartungen nach zweifacher Erholung eine Verschnaufpause einlegen.

Die Bank of England behält auf ihrer Notenbanksitzung ihre offensive Rhetorik zur vorsorglichen Konjunkturstabilisierung vor dem Hintergrund von Brexit bei.

2 Kommentare

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  • Gone Fishing
    Gone Fishing

    Fiktion, aber dennoch: Zinsen rauf, dann werden die Staaten vielleicht einmal dazu gezwungen die viel zu hohen Steuern zu senken und dem Wort "Austerität = Steuererhöhungen" die ursprungliche Bedeutung "Austerität = Ersparniss am Staatsapparatus" zurückzugeben. . Dann wird mehr gekauft, Unternehmen können mehr produzieren und der Staat hat seine Einnhamen auch wieder, alle sind glücklich. 3/4 des Staatsapparates besteht sowieso nur zur Verwaltung von Gesetzen, Normen, Verordnungen und die strikte Kontrolle derselben. Oft ist weniger mehr, grobe Verstösse von Unternehmen und Privatpersonen werden weiter, aber gezielt geahndet, der "administrative Überkopf" ist viel zu gross und unproduktiv, wer soll das alles denn auch bezahlen.

    Historisch gesehen kann das europäische Konzept doch nur mit einem staunenden Kopfschütteln betrachtet werden: Steuern erhöhen, Sozialausgaben und Sozialleistungen kürzen (bei gestiegener Arbeitslosigkeit), Renten kürzen, der (noch) arbeitenden Bevölkerung empfehlen mehr zu sparen um den Zinsverlust zu kompensieren, Zinsen senken, Währung abwerten, Löhne einfrieren, öffentliche Grossprojekte einstellen, bei Infrsstrukturen sparen, mit den Ersparnissen nationale Banken retten, per Saldo gleiche, staatliche Verwaltungsausgaben wie zuvor haben - und dann erwarten dass die Bevölkerung mehr konsumiert (von dem weniger Netto bei gestiegenen und realen Lebenshaltungskosten) und die Unternehmen mehr produzieren (bei höheren Formalitäten, Risiken, Umwelt- und sonstigen Auflagen, Steuern).

    Im Zusammenhang gesehen ist das Massnahmenbündel ein wahrer Alptraum, genau so sieht auch das Resultat aus.

    Ganz naíve Frage: in sämtlichen Inflationsländern die ich aus den siebziger, achtziger, neunziger Jahren kenne - in allen war das Zinsniveau besonders hoch (auf Kreditzinsen aber auch auf Guthabenzinsen) - hohe Zinsen von 8% 16% 28% und darüber (nicht niedrige) gehören zur Inflation dazu - gerade aufgrund der hohen Zinseinkünfte (bei real abgewerteter Währung) fühlt ein Teil der Bevölkerung sich besonders reich und konsumiert. Warum sollte es diesmal anders sein?

    Zur Fiktion der Inflationsnull.... (beim Strom? beim Mineralwasser? beim Neuwagen? beim Eigenheim? bei der Mwst.? bei den Kontoführungsgebühren?) ist hier leider kein Platz. Ja, Benzin ist einigermassen gleich geblieben in der EU, der Barrelpreis hat sich ja auch halbiert auf dem Weltmarkt. Bis neulich.... in Europa, das Ganze ist eine einzige Tragi-Komödie.

    23:07 Uhr, 09.09.2016
  • MMeier2
    MMeier2

    >die marode deutsche Infrastruktur <

    ???

    >und in die Digitalisierung der Industrie investiert werden<

    Sollten nicht wenigstens diese Investitionen von der Industrie selber getragen werden?

    18:06 Uhr, 09.09.2016