Analyse
15:47 Uhr, 02.05.2008

Drache oder Riesenpanda? Was China für Brasilien bedeutet

Externe Quelle: Deutsche Bank Research
Markus Jaeger

Auf den ersten Blick scheinen sich Brasilien und China bei Handelsaktivitäten und Investitionen erstaunlich gut zu ergänzen: China benötigt Rohstoffe, um sein hohes Wirtschaftswachstum aufrechterhalten zu können. Brasilien verfügt in hohem Maße über natürliche Ressourcen wie z. B. Eisenerz, Soja und Öl. (Durch die in der letzten Zeit entdeckten Öl- und Gasvorkommen könnte Brasilien in den kommenden Jahren zu einem der wichtigsten Erdölexporteure aufsteigen.) Brasilien leidet unter niedrigen Spar- und Investitionsquoten. Im Gegensatz dazu hat China eine extrem hohe Sparquote. Während die Sparquote in Brasilien nur 17% des BIP ausmacht, hat sie in China inzwischen das hohe Niveau von 45% des BIP erreicht. Die Komplementarität zwischen Brasilien und China ist zwar eine „gute Story“, sollte jedoch nicht außer Acht lassen, dass sich der Konkurrenzdruck Chinas in der Verarbeitenden Industrie auf jeden Fall verstärken wird. Dies hat in einigen Sektoren der brasilianischen Industrie Zweifel ausgelöst, in welchem Maße die Wirtschaftsbeziehungen Brasiliens zu China wirklich von Nutzen sind (bzw. zukünftig sein werden).

Brasilien hat von einem wahren Exportboom nach China profitiert, wies letztes Jahr jedoch zum ersten Mal seit vielen Jahren ein bilaterales Handelsbilanzdefizit mit China auf. Strukturelle Faktoren geben dem ressourcenintensiven Wirtschaftswachstum in China wesentliche Impulse, wobei insbesondere die Urbanisierung, der demografische Wandel und die Industrialisierung eine große Rolle spielen. Dies eröffnet Chancen für die brasilianische Exportindustrie, die auf rohstoffintensiven Gütern basiert. Es ist nicht überraschend, dass der bilaterale Handel, wenn auch von niedrigem Niveau aus, boomt. Im letzten Jahr machten Brasiliens Exporte nach China nur 7% des Gesamtexports aus. Damit wurde China jedoch Brasiliens drittgrößter Handelspartner (zweitgrößter Handelspartner, wenn man die EU nicht als individuellen Handelspartner zählt) und gleichzeitig das Land, mit dem die höchste Steigerungsrate des Handelsvolumens verzeichnet wurde. Im letzten Jahr wies Brasilien jedoch trotz der Rekord-Rohstoffpreise ein Handelsbilanzdefizit mit China auf, und der Export industrieller Güter nach China hat in den letzten Jahren weitgehend stagniert.

Ausländische Direktinvestitionen (ADI) Chinas in Brasilien sind bisher enttäuschend. China hat seine riesigen Kapital- und Leistungsbilanzüberschüsse hauptsächlich in Form einer Akkumulierung von Devisenreserven “recycled” – trotz der vor kurzem erfolgten Gründung eines Staatsfonds. Angesichts der hohen inländischen Nachfrage nach Rohstoffimporten wäre es unter politischen, strategischen und auch ökonomischen Aspekten sicherlich attraktiv für China, direkt in ausländische (brasilianische) Rohstoffsektoren zu investieren. Während seiner Reise nach Lateinamerika im Jahr 2004 sagte Präsident Hu Berichten zufolge chinesische Direktinvestitionen in der Größenordnung von USD 100 Mrd. bis 2010 zu. Bisher waren die Direktinvestitionen Chinas in Lateinamerika – von Brasilien ganz zu schweigen – enttäuschend gering. Auf der Basis der chinesischen Daten über die Direktinvestitionen im Ausland belaufen sich die Direktinvestitionen in Brasilien im Jahresdurchschnitt auf lediglich USD 10 Mio.! Selbst unter der Annahme, dass ein Teil der Zuströme chinesischer Direktinvestitionen nach Brasilien über Offshore-Zentren geleitet wird, bleiben die Direktinvestitionen Chinas in Brasilien weiterhin enttäuschend.

Die Schlüsselfrage ist, ob sich Brasilien eine Exportstruktur leisten kann, die hauptsächlich von natürlichen Rohstoffen abhängig ist. Wird China nicht zu einer Gefährdung für Brasiliens Verarbeitende Industrie und seine zukünftige wirtschaftliche Entwicklung? Die Sektoren des personalintensiven Verarbeitenden Gewerbes, dass sich durch niedrigem Technologisierungsgrad auszeichnet, wird unter zunehmenden Wettbewerbsdruck geraten, und sogar einige der industriellen Sektoren, die auf die Produktion von High Tech-Gütern spezialisiert sind, müssen sich im Laufe der Zeit auf eine zunehmende Verschärfung des Wettbewerbs durch China einstellen. In den letzten Jahren hat China im High Tech-Bereich einen Exportboom sondergleichen verzeichnet. Bereits im Jahr 2005 bestanden 31% der Industrieexporte Chinas aus High Tech-Produkten, verglichen mit 13% der Exporte Brasiliens. Für Brasilien wird es nicht einfach sein, einen wirtschaftlichen Modernisierungskurs voranzutreiben, der auf eine breite, exportorientierte Industrialisierung fokussiert ist. Besonders relevant ist in diesem Kontext zunächst, dass China einige sehr positive Faktoren auf sich vereint: ein hohes Produktivitätswachstum, geringe Lohnkosten und die Tatsache, dass es mit Hilfe von Direktinvestitionen aus dem Ausland bereits eine wettbewerbsfähige, exportorientierte Industrie aufgebaut hat. Für China, das im Produktnetzwerk nach dem Hausmann-Konzept eine gute Position einnimmt, wird es viel leichter sein als für Brasilien, in die auf High Tech-Güter spezialisierten Segmente der Verarbeitenden Industrie mit höherer Wertschöpfung vorzudringen. Schließlich wird es für China auch in Zukunft leichter sein, einen günstigen Wechselkurs aufrechtzuerhalten als für Brasilien, dessen Wechselkurs viel größeren Schwankungen unterworfen ist.

Es ist unwahrscheinlich, dass Brasilien in punkto Industriestandort ein „zweites China“ oder zu einem international wettbewerbsfähigen “Dienstleistungszentrum” indischen Vorbilds wird (obwohl es über international konkurrenzfähige Industrie- und Dienstleistungsunternehmen verfügen wird).
Zur Ausnutzung seines Wettbewerbsvorteils muss Brasilien in die angrenzenden Bereiche des „Produktnetzwerkes“ mit höherer Wertschöpfung vordringen. Brasilien ist gut positioniert, die gesamte Rohstoffpalette von Energie über Metalle bis hin zu den sogenannten weichen Rohstoffen anbieten zu können. Die Hauptherausforderung wird darin bestehen, die Wertschöpfung in diesen Sektoren zu steigern. Brasilien befindet sich jedoch in einer einzigartigen Position, sein reiches Rohstoffpotenzial auszuschöpfen, seinen technologischen Vorsprung im Agrarsektor, im Bereich der alternativen Energien etc. weiter auszubauen und den Downstream-Prozess voranzutreiben (z. B. Marketing und Vertrieb), um sich auf die profitabelsten Segmente der Wertschöpfungskette zu fokussieren. Brasilien ist eines der wenigen Länder, das sowohl über eine ausreichende Rohstoffbasis und eine relativ moderne Research-Infrastruktur in Wirtschaftssektoren mit Wachstumspotenzial verfügt (z. B. Ethanol, Forschung im Agrarbereich). Mit dieser einzigartigen Position unter den rohstoffreichen Schwellenländern gibt Brasilien Anlass zu berechtigter Hoffnung.

Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass der einzige Weg zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum nur über eine exportorientierte Entwicklung mit starker industrieller Basis führen kann. Zugegebenermaßen hat sich ein exportorientierter wirtschaftlicher Modernisierungskurs in der Vergangenheit immer als relativ erfolgreiche Strategie erwiesen. Ihre positiven Effekte auf die Volkswirtschaft sind z. B. eine stabile Nachfrage und ein deutlicher Technologisierungsschub. Aber am Ende hat Paul Krugman Recht. Ausschlaggebend ist das Produktivitätswachstum, nicht der Außenhandel oder die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Ein in das internationale Wirtschaftssystem integrierter Industriesektor macht es möglicherweise leichter, Widerstände im Lande gegenüber wirtschaftlichen Reformen zu überwinden. Aber am Ende ist es das Produktivitätswachstum, das den wirtschaftlichen Fortschritt beflügelt, nicht der Außenhandel oder ein großer Industriesektor. Die ausschließliche Fokussierung auf den Aufbau eines wettbewerbsfähigen Exportsektors ist eine zweifelhafte Strategie (wie die 70er Jahre gezeigt haben). Dies gilt umso mehr, wenn es sich um eine relativ geschlossene Volkswirtschaft handelt und der Dienstleistungssektor bereits 2/3 des BIP ausmacht. Der Schlüssel zur Steigerung des Wirtschaftswachstums sind wirtschaftspolitische Reformen - unabhängig davon, ob die Volkswirtschaft geschlossen oder offen ist oder ob die Exportstruktur von der Industrie oder dem Rohstoffsektor beherrscht wird. Noch einmal: ein international integrierter Industriesektor könnte helfen, produktivitätsfördernde Reformen voranzutreiben; aber er ist keinesfalls der einzige Weg, nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu erzielen. Dies gilt insbesondere für Volkswirtschaften wie Brasilien, die die Größe eines Kontinents haben, mit einem großen Inlandsmarkt. China wird einigen wirtschaftlichen Sektoren in Brasilien deshalb wie ein Riesenpanda erscheinen, während andere mit China eher das Bild eines Feuer speienden Drachen assoziieren. Für Brasilien insgesamt ist die Frage „Panda oder Drache?“ jedoch fiktiver Natur. Chinas Bedeutung für Brasilien wird davon abhängen, ob Brasiliens wirtschaftspolitischer Reformkurs erfolgreich ist.

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Über den Experten

Alexander Paulus
Alexander Paulus
Technischer Analyst und Trader

Alexander Paulus kam zunächst über Börsenspiele in der Schule mit der Börse in Kontakt. 1997 kaufte er sich seine erste Aktie. Nach einigen Glückstreffern schmolz aber in der Asienkrise 1998 der Depotbestand auf Null. Da ihm das nicht noch einmal passieren sollte, beschäftigte er sich mit der klassischen Charttechnik und veröffentlichte seine Analysen in verschiedenen Foren. Über eine Zwischenstation kam er im April 2004 zur stock3 AG (damals BörseGo AG) und veröffentlicht seitdem seine Analysen auf stock3.com (ehemals GodmodeTrader.de)

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