Kommentar
08:00 Uhr, 16.06.2007

Die ukrainische Börse befindet sich weiter im Neubewertungsprozess

Über den ukrainischen Aktienmarkt haben wir erst in Ausgabe 20-06 ausführlich berichtet. In so kurzer Zeit dürfte sich nicht allzu viel getan haben, sollte man zunächst meinen. Doch weit gefehlt. In der Ukraine hat sich in den vergangenen sechs Monaten vieles ereignet, was es zu berichten und einzuschätzen gilt. Eine neue Bestandsaufnahme macht somit wirklich viel Sinn. Um uns ein besseres Bild zu verschaffen, haben wir jüngst wieder einmal Kiew besucht. Dort nahmen wir an einer Investorenkonferenz, ausgerichtet vom Broker Dragon Capital teil, und sprachen zudem mit einigen anderen Marktteilnehmern.

Der Aktienmarkt in Kiew trotzt der Politik-Posse

Zu Beginn unserer Ausführungen wollen wir zunächst kurz auf das derzeit eindeutig schlagzeilenträchtigste Gebiet eingehen, die Politik. Hier hat sich mit Abstand das Meiste getan im vergangenen halben Jahr, wobei die Nachrichten zumeist leider negativ waren. Erstmals richtig wahrgenommen wurde das Dilemma in den Medien im Westen am 2. April, als Präsident Viktor Juschtschenko ein Dekret erließ, mit dem er das Parlament auflöste und vorzeitige Neuwahlen ausrief. Diese Entscheidung kam nachdem der Präsident immer mehr Macht an die Regierung von Viktor Janukowitsch hatte abgeben musste. Außerdem liefen immer mehr Abgeordnete der Opposition zur Regierungskoalition über, was angeblich auch auf Bestechung zurückzuführen gewesen sein soll, wodurch wiederum langsam eine Zweidrittelmehrheit für die Koalition im Parlament in Reichweite kam. Damit hätte das Vetorecht des Präsidenten übergangen werden können und auch eine Verfassungsänderung wäre möglich gewesen. Vermutlich auch wegen dieser Gefahr entschied sich der ansonsten oft als nicht sehr entschlussfreudig geltende Präsident dazu, zu handeln. Weil die aus der Partei der Regionen von Premierminister Viktor Janukowitsch, den Sozialisten und den Kommunisten bestehende regierende Koalition diese Entscheidung nicht akzeptierte, verschärfte sich anschließend der Machtkampf noch. Es kam zu Demonstrationen und kurzzeitig schon es angesichts von ersten Truppenaufmärschen sogar so, als ob es zu Kampfhandlungen kommen könnte. Auf den letzten Drücker wurde dann zwar noch ein Kompromiss gefunden. Als Ergebnis daraus werden nun am 30. September Parlamentswahlen abgehalten.

Ein gutes Bild warf die ganze Aktion auf die Ukraine aber mit Sicherheit nicht. Dem Ausland wurde wieder einmal vor Augen geführt, wie kritisch und instabil die Lage in der Ukraine nach wie vor immer. Wer dem ganzen Geschehen etwas Gutes abgewinne will, der kann zwar argumentieren, letztlich sei alles friedlich verlaufen und man habe abschließend doch zu einer Kompromisslösung gefunden. Die Gespräche, die wir vor Ort mit Einheimischen geführt haben, lassen uns aber am Wert dieses Kompromisses zweifeln. Vor allem Jugendliche zeigten sich völlig desillussioniert. Viele von ihnen hatten sich während der Orangenen Revolution stark engagiert und für einen Neuanfang in der Ukraine gekämpft. Inzwischen sehen sie ihre Ideale verraten und sie können weit und breit keinen Politiker entdecken, dem sie noch vertrauen können. Als Folge davon haben sich viele gebildete Jugendliche abgewendet von der Politik und ihren Glauben an eine Wende zum Besseren in politischer Hinsicht begraben. Das ist eine Besorgnis erregend dramatisch negative Entwicklung. Den führenden Politikern scheint dies aber egal zu sein. Sie kümmern sich offensichtlich primär um ihre eigenen Interessen und um ihre Eitelkeiten. Erschwert wird ein Neuanfang zudem durch die historische Spaltung des Landes. Es war schon immer so, dass der Westen der Ukraine mehr westlich orientiert und Einflüssen von Polen und Österreich ausgesetzt war, während der Osten kulturell, politisch und wirtschaftlich eher Russland nahe stand. In der Politik schlug sich das so nieder, dass die Partei der Regionen starken Rückhalt im Osten des Landes genießt, während der Block um Julia Tymoschenko und Präsident Juschtschenko im Westen stark ist.

An dieser Spaltung wird sich kurzfristig auch nichts ändern. Das spricht für auch künftig schwierige politische Verhältnisse. Und auch die Wahlen werden daran nichts Entscheidendes verändern. Den Umfragen zufolge kann die Regierungskoalition erneut auf eine knappe Mehrheit hoffen und wenn das so kommen sollte, hätte sich letztlich gegenüber dem Status Quo nicht viel geändert. Bis zur Wahl kann zwar noch einiges passieren, aber selbst wenn die Opposition noch zulegen sollte, die vertrackte Pattsituation wird vermutlich so oder so erhalten bleiben. Wie man als Investor am besten mit dieser schwierigen politischen Lage umgeht, steht und fällt mit der Einschätzung der Frage, ob die Zwistigkeiten irgendwann in Kampfhandlungen und in einer anschließenden Zweiteilung des Landes münden können. Bleibt zu hoffen, dass hier Vitaly Shuskovsky, Head od Research bei UFC Capital, Recht behält. Laut ihm haben nämlich auch jene Kräfte, denen pro-russische Tendenzen nachgesagt werden, kein echtes Interesse an einer engen Anbindung an Russland.

Herzlichst Ihr Jürgen Büttner

Chefredakteur Ostbörsen-Report, www.ostboersen-report.de

Der Ostbörsen-Report ist eine Online-Publikation der BörseGo GmbH und kann unter obiger Web-Adresse durch Eintragung Ihrer E-Mail-Adresse abonniert werden.

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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