Kommentar
16:31 Uhr, 05.08.2019

"Das Spiel dauert 90 Minuten…"

Die internationalen Aktienmärkte haben ein überaus erfolgreiches erstes Halbjahr 2019 erlebt. Doch Anleger sollten die Kursentwicklung der ersten sechs Monate keinesfalls auf das Gesamtjahr hochrechnen, warnt HSBC-Chartexperte Jörg Scherer im Interview.

Jörg Scherer, Diplom-Kaufmann und Certified Financial Technician (CFTe), gehört zu den bekanntesten technischen Analysten Deutschlands. Scherer ist Verfasser des HSBC Daily Trading, einem der meist gelesenen Trading-Newsletter. Erst kürzlich hat der Chartexperte sein Halbjahresupdate veröffentlicht. Im ersten Teil des Interviews mit dem TradersJournal erläutert Scherer, wie wahrscheinlich nach der starken Erholung im ersten Halbjahr weitere Kursgewinne an den Aktienmärkten sind.

Herr Scherer, in Ihrem charttechnischen Jahresausblick vor einem halben Jahr haben Sie vor zu viel Euphorie gewarnt, was die Entwicklung der internationalen Aktienmärkte im Jahr 2019 betrifft. Gilt diese Warnung auch nach den jüngsten Allzeithochs im S&P 500 und den Indizes an der US-Technologiebörse Nasdaq unverändert? (Hinweis: Das Interview wurde am 11. Juli geführt.)

Die internationalen Aktienmärkte haben ein überaus erfolgreiches erstes Halbjahr 2019 erlebt. Doch Anleger sollten die Kursentwicklung der ersten sechs Monate keinesfalls auf das Gesamtjahr hochrechnen. Jeder Sportler weiß, dass die engen Spiele bzw. Wettkämpfe oftmals in den letzten Minuten oder auf den letzten Metern entschieden werden. Das Spiel dauert bekanntlich 90 Minuten. Möglicherweise ist deshalb jetzt der richtige Zeitpunkt, um die gute Wertentwicklung im bisherigen Jahresverlauf kritisch zu hinterfragen.

Welche Warnzeichen stechen Ihnen aktuell besonders ins Auge?

Nach unserer Einschätzung könnte das Thema der negativen Divergenzen zum entscheidenden Einflussfaktor der zweiten Jahreshälfte mutieren. Schließlich besteht derzeit eine Vielzahl an solchen Divergenzen. Das betrifft zum Beispiel die sogenannte Marktbreite. Die Advance-/Decline-Linie, bei der alle an der NYSE notierten Aktien berücksichtigt werden, befindet sich noch in einem stabilen Aufwärtstrend. Ein anderes Bild zeigt sich allerdings, wenn Investoren die Advance-/Decline-Linie für alle NASDAQ-Titel berechnen. Hier liegt inzwischen eine klassische negative Divergenz vor. Das erneute Rekordhoch aus dem Jahr 2019 wurde also nicht seitens der Marktbreite bestätigt. Mit anderen Worten: Das neue Allzeithoch des laufenden Jahres wurde von einer geringeren Anzahl an Einzeltiteln getragen als das ehemalige Pendant von 2018. Der Grad an Selektivität nimmt also deutlich zu. Dieses Phänomen ist das typische Verhaltensmuster in der Spätphase einer Hausse. Nur noch wenige hochkapitalisierte Titel treiben den Index dann auf neue Rekordstände, während sich unter der Oberfläche bei der Mehrzahl der Papiere bereits ein anderes Bild abzeichnet. Vor diesem Hintergrund liefert die Advance-/Decline-Linie derzeit ein klares Warnsignal.

Was sind weitere Beispiele für die angesprochenen Divergenzen?

Eine der Kernforderungen von Charles Dow lautete, dass sich die Indizes gegenseitig bestätigen müssen. Gemeint waren auf der einen Seite der Dow Jones Industrial Average und auf der anderen Seite der Dow Jones Transportation. Dahinter steckt eine gleichermaßen einfache wie einleuchtende Wirtschaftstheorie: Wenn die Wirtschaft prosperiert, dann werden mehr Waren produziert und dann müssen auch mehr Güter von A nach B transportiert werden. Der Blick auf den Dow verdeutlicht aktuell allerdings drei nahezu identische Hochs bei knapp 27.000 Punkten, während der Transport Index bereits zur Schwäche neigt. Transporttitel notieren aktuell rund 1.000 Indexzähler unterhalb ihres bisherigen Rekordstandes aus 2018 (11.624 Punkte). Auch hier öffnet sich also aktuell die Schere! Eine weitere entscheidende Divergenz lässt sich zwischen dem S&P 500 und dem Value Line Arithmetic Index identifizieren. Bei diesem Index handelt es sich um ein breites US-Aktienbarometer mit mehr als 1.600 Titeln. Im Gegensatz zu den allermeisten sonstigen Aktienindizes werden die Papiere des Value Line Arithmetic Index gleichgewichtet. Dadurch wird der Einfluss der Indexschwergewichte deutlich reduziert. Im konkreten Fall verblieb der gleichgewichtete Index deutlich unter seinem Rekordstand vom Herbst 2018. Zuletzt hat sich die dadurch entstehende negative Divergenz nochmals verschärft, denn das neuerliche Allzeithoch im S&P 500 wird im Value Line Index von einem erneut tieferen Hoch flankiert.

Der S&P 500 hat zuletzt ein neues Allzeithoch bei 3.000 Punkten markiert. Wie schätzen Sie die Aussichten für diesen Index aktuell ein?

Trotz jeweils neuer Rekordstände in jedem der letzten drei Monate lässt der S&P 500 bisher Anschlusskäufe vermissen. Einen Erklärungsansatz stellt unseres Erachtens die runde Kursmarke von 3.000 Zählern dar. Aus technischer Sicht besitzen solche runden Kursniveaus oftmals eine besondere Anziehungskraft. Regelmäßig halten Auswahlindizes im Dunstkreis solcher Schlüsselmarken jedoch inne. Das ist genau das Verhaltensmuster, welches der S&P 500 seit dem alten Allzeithoch vom Herbst 2018 (2.941 Punkte) an den Tag legt. Letztlich führt diese Entwicklung erneut zu unserem Mantra der negativen Divergenzen. Schließlich bestätigen weder RSI noch der trendfolgende MACD die neuen Rekordhochs in der Kursentwicklung. Zwischen Kurs- und Indikatorverlauf ergibt sich also eine deutliche Diskrepanz. Vor dem Hintergrund der Vielzahl an negativen Divergenzen sowie der schwierigen saisonalen Phase während der Sommermonate sehen wir nach dem Erreichen der runden Marke von 3.000 Punkten aktuell kein gutes Chance-Risiko-Verhältnis im S&P 500.

Welche Rolle spielt die Tatsache, dass wir uns aktuell in einem US-Vorwahljahr befinden, also dass im kommenden Jahr wieder eine US-Präsidentschaftswahl ansteht?

Der US-Präsidentschaftszyklus gibt aktuell, wie auch der Dekadenzyklus, keinen Anlass zur Euphorie. Gemessen am durchschnittlichen Verlauf des Dow Jones in US-Vorwahljahren dürften die Bäume von nun an nicht mehr in den Himmel wachsen. Zudem läuft der zyklische Rückenwind des typischen „9er-Jahres“ nun zusehends aus. Dessen durchschnittlicher Verlauf legt sogar eine Zäsur zum Ende der Dekade nahe. Im Zuge eines möglichen Neubewertungsprozesses ist die Phase von Ende August bis Anfang November besonders korrekturanfällig. Anleger sollten keine allzu große Erwartungshaltung hinsichtlich einer möglichen Jahresendrally 2019 mitbringen.

Wie schätzen Sie die Aussichten für die europäischen Aktienmärkte, die ja in den vergangenen Jahren den US-Märkten häufig hinterhergehinkt haben, aktuell ein?

In Europa halten wir den Kursverlauf des Stoxx Europe 600 weiterhin für einen der Schlüsselcharts. Seit 20 Jahren tendieren die europäischen Standardwerte letztlich seitwärts. In schöner Regelmäßigkeit verließ die Marktteilnehmer dabei bei gut 400 Punkten der Mut. Mit anderen Worten: Dieses Niveau markiert den ultimativen charttechnischen Deckel. Wann immer es dem Stoxx Europe 600 gelingt, die Hürden bei 404/408/415 Punkten zu überspringen, entsteht ein neues prozyklisches Investmentkaufsignal. Vor dem Hintergrund der bestehenden negativen Divergenzen sowie der schwachen Saisonalität fehlt uns aktuell allerdings die Phantasie, warum dieser Widerstand gerade jetzt genommen werden sollte.

Kommen wir zum DAX, der bei deutschen Tradern und Anlegern besonders im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Seit Jahresbeginn konnte sich auch der DAX wieder deutlich erholen, ohne allerdings in die Nähe des Allzeithochs aus dem vergangenen Jahr gekommen zu sein. Wie sieht die charttechnische Lage im deutschen Leitindex aktuell aus?

Beim DAX lohnt es sich, einen Blick auf den Kursindex zu werfen. Ohne Berücksichtigung der Dividenden zeigen die deutschen Standardwerte noch ein deutlich vorsichtigeres Bild als im Performance-Index und die Erholung seit Ende vergangenen Jahres ist zuletzt im Bereich eines entscheidenden Widerstandsgürtels ins Stocken geraten. Gemessen am Kursindex muss die gesamte Erholungsbewegung seit Ende Dezember vergangenen Jahres bisher als Pullback an den alten Basisaufwärtstrend bzw. an die Nackenlinie der im letzten Jahr vervollständigten oberen Umkehr eingestuft werden. Um es klar zu sagen: Unterhalb der Schlüsselgröße von gut 5.600 Punkten besitzt der Chartverlauf des DAX-Kursindex einen „bearishen“ Grundton. Erst ein nachhaltiger Sprung über diese Hürde würde für einen großen charttechnischen Befreiungsschlag sorgen. Auf der Unterseite gilt es indes, die jüngsten beiden Monatstiefs bei 5.200 Punkten zu beachten. Ein Abgleiten unter dieses Niveau würde ein Scheitern an den beschriebenen Barrieren bei 5.600 Punkten offen zu Tage treten lassen.

Die Fragen stellte Oliver Baron. Das Interview wurde am 11. Juli geführt.

Der große charttechnische Halbjahresausblick 2019 von Jörg Scherer steht Ihnen in der App HSBC Marktbeobachtung zum kostenlosen Download zur Verfügung.

Im zweiten Teil des Interviews, das in der TradersJournal-Ausgabe vom 6. August erscheint, erläutert Jörg Scherer die aktuelle charttechnische Situation bei Gold und Silber und gibt eine Einschätzung zu Minenaktien sowie zu wichtigen Währungspaaren wie EUR/USD ab.

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