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11:52 Uhr, 24.09.2008

Baltikum: Börsen liegen am Boden

Die baltischen Staaten, die wegen dem Konjunkturwunder der vergangenen Jahre auch als die baltischen Tiger bezeichnet wurden, sind zurück in der harten Realität. Inzwischen droht in der Region eine Rezession und die Aktienmärkte haben dieses Szenario bereits in Form von starken Verlusten vorweggenommen. Die Bewertungen sind dadurch deutlich gefallen und die Notierungen haben zuletzt sogar begonnen, sich zu stabilisieren.

Um zu beurteilen, ob das schon die Wende zum Besseren ist, befragten wir Algirdas Zailskas und Donatas Tamelis, Gründer von MarketNews und der FS Group. Bei der FS Group mit Sitz in Wilna handelt es sich um das erste und einzige unabhängige Analyse-Haus, das sich umfassend dem Thema Finanzmarkt im Baltikum (insbesondere Litauen) widmet. Neben den aktuellsten Informationen über den baltischen Finanzmarkt bietet das Unternehmen den deutschsprachigen Kunden Analysen der Branchen, Kapital- und Immobilienmärkte sowie einzelner Unternehmen hinsichtlich des spezifischen Potenzials und Risikos.

Außerdem bietet die FS Group kostengünstige Web-Lösungen, wie Finanzportale etc. Seit knapp einem Monat betreibt das Unternehmen sein erstes Projekt - ein auf Investoren spezialisiertes Finanznachrichten-Portal MarketNews.lt. (Internet-Adresse: www.marketnews.lt)

Wer steckt hinter MarketNews und wie lautet der Geschäftszweck?

Hinter FS Group (MarketNews ist das Produkt) stecken vier Leute, die ihr wirtschaftliches Studium in Deutschland absolviert haben. Der Geschäftszweck lautet: mehr Marktinformationen über die baltischen Börsen für in- sowie auch für ausländische Investoren / Interessenten. Des Weiteren bieten wir kostengünstige Finanz-IT-Lösungen (wie Finanzportale) – auch im deutschsprachigen Raum – an.

Nach einem Wirtschaftswunder plagt sich das Baltikum inzwischen mit Rezessionsgefahren herum. Wie beurteilen Sie die volkswirtschaftlichen Perspektiven?

Eine Wirtschaftsverlangsamung erleben derzeit alle drei baltischen Staaten unterschiedlich: Estland ist bereits in der Rezession (Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal minus 1,4 Prozent), Lettland (laut Ökonomen) wird offiziell über den Konjunkturrückgang nächstes Quartal berichten (BIP zweites Quartal +0,1 Prozent) und die litauische Wirtschaft verzeichnete im zweiten Quartal ein Wachstum von plus 5,3 Prozent.

Die Perspektiven der drei baltischen Länder sind auch gemischt. Ökonomen der Danske Bank rechnen mit einem Wirtschaftsaufschwung Estlands im Jahr 2010, in Litauen – 2011 und in Lettland – 2012. Die Analysten der SEB Bank rechnen mit einem langsamen Wirtschaftsaufschwung in Estland und Lettland Ende 2009, in Litauen sollte der Aufschwung (wegen der Schließung des Atomkraftwerks in Ignalina (2010), was eine Verdopplung der Strompreise bedeutet) Ende 2010 kommen.

Welche volkswirtschaftlichen Fehler wurden begangen, wie sehen jetzt die richtigen Lösungswege aus und was sind aktuell die größten Probleme?

Die zwei größten Probleme derzeit: hohe Inflation und Energiewirtschaft. Größter Fehler war natürlich das Versagen bei der Inflationsbekämpfung in den Jahren des Aufschwungs (2006). Fehler Nummer zwei: mangelnde Vorbereitung auf die Schließung des Atomkraftwerks in Ignalina mit der Hoffnung, dass das Gas zukünftig aus Russland weiterhin billig importiert werden kann. Die beste Zeit, die Inflation zu bekämpfen wurde leider verpasst. Jetzt muss versucht werden mit strenger Finanzdisziplin die Lage zu verbessern. Im Energiebereich ist die staatliche Förderung alternativer Energien notwendig. Weiterhin muss die Renovierung der Immobilien stärker unterstützt werden, da etwa in Litauen die Effektivität des Energieverbrauchs fünfmal niedriger als in der Eurozone ist. Aktuell fürchten sich die Verbraucher vor steigenden Heizkosten.

Längst gibt es günstigere Produktionsstandorte als im Baltikum. Nicht einfacher wird die Lage durch ein begrenztes Angebot an Arbeitskräften. In welchen Sektoren kann das Baltikum in den kommenden Jahren noch punkten?

Ja, das ist richtig. Günstigere Produktionsstandorte haben uns längst überholt. Das sieht man vor allem, wenn man die direkten Auslandsinvestitionen (etwa Litauens) unter die Lupe nimmt. Derzeit stagnieren sie und es gibt keine Indizien dafür, dass sich kurz- bis mittelfristig an dieser Stelle was ändern sollte. Früher waren die baltischen Länder als Niedrigsteuer-Paradiese eingesehen (in den ersten EU-Beitrittsjahren wurde sogar das sogenannte Steuer-Dumping vorgeworfen). Nun ist die Steuererhöhung angesagt, was gewissermaßen zur Einschüchterung der ausländischen Investoren auch sicherlich beitragen wird.

Nichtsdestotrotz bietet das Gebiet immer noch günstige und qualifizierte Arbeitskräfte. Sektor technisch könnte man in der Lebensmittelindustrie, verarbeitendem Gewerbe sowie in der Landwirtschaft noch punkten. In die Landwirtschaft werden noch bis 2013-2015 die EU-Fördergelder fließen. Die Lebensmittelindustrie stellt eine immer größere „Gefahr“ für die westeuropäischen Produzenten dar.

Die Georgien-Krise hat den Status der baltischen Länder als Frontstaaten wieder in den Vordergrund gerückt. Wie hoch sind derzeit aus Ihrer Sicht das politische Risiko und die politischen Belastungen?

Durch den Kaukasus-Konflikt ist das Thema “Russland und Baltikum“ noch sensibler geworden. Einerseits könnte man fast sagen, wer die erste Kugel abschießt, muss bestraft werden. Nach dem Moto: solange die baltischen Staaten das Kaliningrad-Gebiet nicht eingreifen, passiert uns nichts!

Andererseits wäre es naiv zu behaupten, dass Neutralität in so einem Konflikt wie im Kaukasus uns ein risikofreies Leben gewährt. Wenn sich das Baltikum aus dem Konflikt komplett fernhalten würde, änderte sich die Politik in Moskau hinsichtlich der drei baltischen Länder nicht. Man muss auch die demografische Aufteilung in den drei Staaten nicht vergessen: knapp ein Drittel der estnischen und lettischen Bevölkerung sind Russen (in Litauen – mehr als fünf Prozent). Russland hat offensichtlich immer noch imperialistische Ambitionen, was die Wahrscheinlichkeit der zukünftigen Provokationen im Baltikum nur erhöht.

Wie sind die Halbjahresergebnisse ausgefallen und wie lauten die durchschnittlichen Gewinnprognosen für 2008 und 2009?

Zwar sind die durchschnittlichen Halbjahresergebnisse nicht so gut wie in den “Boomjahren“ ausgefallen, stimmten sie aber wegen der Konjunkturverlangsamung mit den Analysteneinschätzungen überein. Die erste Jahreshälfte war etwas schwieriger für die Sektoren, die direkt von der Konjunktur abhängen: Milchindustrie, Immobilien- sowie Konsumsektor.

In der zweiten Jahreshälfte wird sich zeigen, welche Sektoren und Unternehmen die ökonomischen Zyklen überleben können. Die Situation im Jahre 2009 wird sehr stark von der makroökonomischen Lage der Länder (Inflation, BIP-Wachstum und Konsumentenvertrauen) abhängen. Die Lage wird weiterhin durch steigende Heizungs- sowie Stromkosten angespannt bleiben.

Was kann über die aktuellen Bewertungsrelationen gesagt werden?

Analysten und Händler empfehlen aufgrund derzeit günstiger Bewertungsrelationen jedoch keine kurzfristigen Anlageentscheidungen zu treffen. Natürlich ist die Region langfristig aufgrund der genannten Indikatoren günstig bewertet, viel wichtiger ist aber die Beobachtung der makroökonomischen Lage in den nächsten sechs bis zwölf Monaten, da die Bewertungsrelationen sich erfahrungsgemäß sehr schnell ändern können.

Verglichen mit früheren Übertreibungsphasen sind die Bewertungen inzwischen bei vielen Titeln wieder interessant. Was muss passieren, dass die Anleger wieder vermehrt einsteigen?

Richtig, die Bewertungen vieler Titel sind aktuell attraktiv, sie waren vor dem letzten Kursabsturz (etwa Herbst 2007) aber nicht unattraktiv im Vergleich zu den früheren Übertreibungsphasen vor rund drei Jahren. Für die Investoren sind gerade das Konsumentenvertrauen und die makroökonomischen Erwartungen von großer Bedeutung. Erst wenn die positiven Signale der Wirtschaftslage bekanntgegeben werden, wird die Aktivität bei den Investoren im Baltikum wieder geweckt. In den nächsten sechs bis zwölf Monaten ist das aber nicht zu erwarten. Unternehmen, die es schaffen, Investoren mit den positiven Zahlen in den kommenden Krisenmonaten zu überzeugen, werden dann als Einstiegspositionen angesehen.

Die Börsenumsätze sind nach wie vor sehr niedrig. Wie lässt sich daran etwas ändern und ist die geringe Liquidität nach wie vor ein Einstiegshemmnis?

Die bereits niedrige Liquidität ist im letzten Jahr wegen des Preisverfalls um 40 bis 50 Prozent noch flacher geworden, wird aber während der Aufschwungsphase wieder zunehmen. Einerseits kann die geringe Liquidität mit dem begrenzten Kenntnisstand der Bevölkerung zum Thema Börse/Investieren erklärt werden. Andererseits gibt es noch zu viele Titeln an der Börse, deren Free float sehr gering ist. Solche Unternehmen sind für kleine als auch für große Anleger äußerst unattraktiv, da ein Einstieg viel zu riskant werden kann, wenn die Titel dringend verkauft werden müssten. Die Situation lässt sich erstens dann verbessern, wenn an die Börse mehrere moderne Unternehmen kommen, die illiquiden sollen dann den Kapitalmarkt verlassen. Durch die Emission neuer Investmentprodukte (Optionen, Fonds, strukturierte Produkte) wird die Liquidität auch (indirekt) gesteigert. Hinzu kommt noch der angekündigte Zusammenschluss der Börsensysteme Nasdaq und OMX, der den direkten Zugriff für die Anleger aus den USA ermöglichen wird.

Welche Branchen/Einzelwerte favorisieren Sie momentan und welche meiden Sie?

Man sollte zurzeit die Sektoren meiden, die von der makroökonomischen Lage stark abhängen, wie etwa der den Finanzsektor, Milch- sowie die Holzverarbeitende Industrie (insbesondere Möbelindustrie). Nach dem Bauboom der letzten Jahre (internationale Immobilienkrise kommt noch hinzu) leiden soeben auch die Immobilienunternehmen (nicht Bauunternehmen, sondern Vermittler).

Favorisiert wird momentan der litauische Kapitalmarkt und besonders die Unternehmen, die auch in den Krisenzeiten hohe Dividenden zahlen als auch gute Ergebnisse vorweisen können, etwa das Telekommunikationsunternehmen „TEO LT“ (ISIN: LT0000123911), dass seit Jahren kontinuierlich gute Geschäftsergebnisse aufweist sowie Dividenden in Höhe von mehr als zehn Prozent zahlt. Laut Händlern, wird zur Zeit der Düngemittelhersteller „Lifosa“ (ISIN: LT0000116691) günstig bewertet, die Weiterentwicklung dieses Unternehmens hängt aber direkt von der weltweiten Düngemittelpreisen, nicht aber von dem baltischen Markt ab. Langfristig raten die Broker die Unternehmen unter die Lupe zu nehmen, die sich an dem Bauprojekt vom neuen Atomkraftwerk in Litauen beteiligt werden. Das sind vor allem die Energie- und Bauunternehmen. Spekulative Anleger könnten sich den Immobiliensektor in Estland, wie „Eesti Ehitus“ (ISIN: EE3100039496) anschauen, dessen Preis im letzten Jahr massiv eingebrochen ist.

Gibt es noch einen weiteren Aspekt, den Anleger mit Blick auf die baltischen Börsen unbedingt beachten sollten?

Zuerst müssten sich die ausländischen Investoren über die Amtssprachen in den baltischen Ländern informieren lassen (Estland – estnisch, Lettland – lettisch, Litauen - litauisch). Die baltischen Börsen haben ein überschaubares Anlageuniversum und somit eine enge Liquidität, was aber auch gewisse Vorteile mit sich bringt. Man muss nicht unbedingt ein „Top Player“ sein, um vieles bewegen zu können.

Quelle: Ostbörsen-Report

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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