Kommentar
14:12 Uhr, 15.02.2006

Arcelor: Da geschieht ja schon ungeheuerliches

Folgende Analyse erschien im Rohstoff-Report 03/2006 am Montag dieser Woche:

Da passiert ja schon Ungeheuerliches. Der Inder, Lakschmi Mittal, ist heute schon nach Bill Gates und Warren Buffet der drittreichste Mann der Welt, und es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis er diese beiden auch noch abgehängt hat, wenn nur alles so liefe, wie er sich das vorstellt. Dabei kommt er aus einer bettelarmen, indischen Familie. Das Establishment der Stahlbarone hatte immer nur ein hämisches Lächeln für ihn übrig gehabt, wenn er wieder einmal einen heruntergekommenen „Stahlkocher“ kaufte. Inzwischen sollte diesen Kapitänen das Lachen vergangen sein. Denn jedes noch so schwache Unternehmen, das er in sein Imperium einreihte, war nach kurzer Zeit profitabel. Zukauf nach Zukauf, immer mit beschränkten Mitteln, brachte ihn schließlich an die Weltspitze der Stahlindustrie.

Nun machen seine Konkurrenten aber auch unverzeihliche Fehler. Statt zu klotzen, liefern sich Thyssen-Krupp und Arcelor eine Bieterschlacht um die ertragschwache, kanadische Dofasco und kommen schließlich zu einem Übernahmepreis von ca. 4 Mrd. Euro für 4,4 Mio. Tonnen Stahlprodukte. Arcelor produziert immerhin über 50 Mio. Tonnen feinster Stahlqualitäten, und Mittal bietet für das ganze Unternehmen „lächerliche“ 18,6 Mrd. Euro. Wenn man dagegen den bezahlten Wert von Dofasco auf Arcelor umrechnen würde, dann müsste Mittal doch mindestens zehn mal so viel bezahlen, also 40 Mrd. Euro. Das würde aber unseres Erachtens nicht reichen, denn Arcelors Umsatzrendite liegt so deutlich über der von Dofasco, dass doch wohl noch ein Zuschlag von 30% angebracht wäre. Also sagen wir einmal, ein Kaufpreis von 50 Mrd. Euro wäre gerechtfertigt. Eine andere Berechnung würde zu ähnlichen Ergebnissen führen: Arcelor hat 2005 schätzungsweise einen Gewinn von ca. 3,5 Mrd. Euro erwirtschaftet, die genauen Zahlen sind allerdings noch nicht veröffentlicht. Geht man davon aus, der angemessene Kaufpreis läge bei einer „feindlichen“ Übernahme beim 15fachen des Jahresgewinns, dann wären das auch ca. 50 Mrd. Euro. Mittal ist dagegen nur bereit, das 5,3fache zu zahlen, und viele Arcelor-Aktionäre scheinen damit zufrieden zu sein. Das ist völlig unverständlich und nur damit zu erklären, das den Anlegern der westlichen Industrienationen der Sinn für industrielle Werte abhanden gekommen ist. Man sitzt aus lauter Angst auf Geldmarktanlagen und lässt sich von mutigen Unternehmern, die ihre Wurzeln in den boomenden Schwellenländern haben, unglaubliche Werte unter der Nase wegschnappen.

Dieser Mittal ist also beängstigend clever: Er bietet den Aktionären 27% über dem derzeitigen Aktienkurs, also die genannten 18,6 Mrd. Euro für das ganze Unternehmen an, kann diese Summe aber nicht einmal bezahlen. Denn Bargeld könnte er wohl für maximal 25% des Kaufpreises aufbringen, und das auch nur, weil er sich diese Mittel dadurch beschaffen will, dass er Thyssen-Krupp nach Abschluss der Operation die „lahme“ Dofasco für 3,8 Mrd. in Cash andreht. Und der Thyssenvorstand freut sich sogar darüber! Für den Rest bietet er Mittal-Aktien an, also Papier, denn Mittal will mindestens 68% der neuen Gesellschaft privat halten, um Herr im Hause zu bleiben, und welche „Heuschrecke“ sollte dann je Interesse haben, die Aktie in die Höhe zu treiben, wenn niemals daran zu denken ist, auch Einfluss auf das Management ausüben zu können. Ganz im Gegenteil: Alle neuen Mittal-Aktionäre werden nichts eiligeres zu tun haben, um die so erhaltenen Mittal-Aktien auf den Markt zu werfen. Den institutionellen Anlegern wird eine Anlage bei dem Privatunternehmer Mittal ohnehin nicht sympathisch sein. Mittal kann dann seine Aktien wieder billig einkaufen. Und vieles deutet schon jetzt auf eine solche Hinterlistigkeit hin. Denn Mittal soll seit einigen Tagen eigene Aktien in großem Stil short gehen und sie im Gegenzug bei Institutionellen leihen, um sie später wieder zurückzukaufen. Der Aktionär sollte sich an Mannesmann erinnern, wo er wegen massiver Aktienverkäufe den erwarteten Profit verlor. Aber Erinnerungen haben bekanntlich „kurze Beine“.

Wie kommt denn nun Mittal auf diese freche Idee? Waren denn bisher feindliche Übernahmen in der Stahlindustrie nicht verpönt? An diesem Kulturwandel ist nun ausgerechnet Arcelor schuld. Denn sie hatte ja einen solchen feindlichen Krieg bei der Übernahmeschlacht um Dofasco eröffnet. Das hebt Mittal auch hervor und ist sich deshalb keiner Schuld bewusst. Er hat nur die einzig richtige Konsequenz daraus gezogen: Warum nicht den „Riesenfisch“ an sich reißen, wenn der „mickrige“ so viel teuerer ist. Eins muss man Mittal schon lassen: Rechnen kann er, und das ganz im Gegensatz zu den Herren in den Vorstandsetagen seiner Konkurrenz.

Ob er mit diesem Coups Erfolg haben wird, ist noch nicht sicher. Immerhin behauptet er, dass er schon die Zusage von etwa 30% der Arcelor-Aktionäre habe. Dass das überhaupt möglich ist, hat dann auch wieder Arcelor zu verantworten. Denn sie hat es versäumt, sich eine zuverlässige Aktionärsstruktur zu schaffen. Die Nationalstaaten, die so lange unter den Verlusten ihrer Stahlunternehmen litten, haben sich ja fast ganz zurückgezogen. Frankreich, das den größten Brocken in die Arcelor eingebracht hatte, besitzt sogar nicht einmal eine Aktie mehr. Übrig geblieben sind die „winzigen“ Europäer, wie Luxemburg mit 5,6% und Belgien mit 3,2% und schließlich Spanien mit 3,5% sowie die Belegschaft mit 2%. Fast 87% des Aktienkapitals liegen im Streubesitz. Das ist eben der Nachteil großer Publikumsgesellschaften. Sie sind gnadenlos den Attacken der neureichen Unternehmer aus den Schwellenländern ausgeliefert, ohne Gegenofferten machen zu können. Denn der Gegner ist ja Eigentümer seines Unternehmens. Wir werden davon künftig noch viel mehr sehen. Nach dem Abwandern unserer Arbeitsplätze kommt die „Verschleuderung“ unseres Kapitals.

Es überrascht schon, dass sich die französische Regierung derart aufspielt, obwohl sie nicht einmal Aktionär bei Arcelor ist. Sie erinnert an die amerikanische Ölgesellschaft Unocal, die die chinesische CNOOC übernehmen wollte, für die dann aber doch eine amerikanische Lösung gefunden wurde, nachdem ein Aufschrei durch die US-Nation gegangen war. Sie vergisst dabei aber zwei Dinge: (1) Für Unocal war ein amerikanischer Käufer da, der auch zu Unocal exzellent passte. (2) Mittal ist ein europäisches Unternehmen mit Sitz in den Niederlanden. Lakshmi Mittal bietet sogar an, seinen Hauptsitz nach Luxemburg zu verlegen. Er selbst lebt seit vielen Jahren in London und fühlt sich als Europäer. Der Aufschrei der europäischen Nationalregierungen verstummte ja dann auch schnell wieder, nachdem die Europäische Kommission klar zum Ausdruck brachte, dass man nichts davon halte, wenn sich Regierungen in die Politik von Unternehmen einmischten. Damit habe man doch bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht. Außerdem müsse sie sich, angesichts einer Affäre zwischen zwei europäischen Unternehmen, ausschließlich auf die kartellrechtlichen Fragen konzentrieren. Derweil kamen auch wütende Warnungen aus der indischen Regierung, man werde sich gegen französischen Wirtschaftsnationalismus zu wehren wissen, denn man sei ja nicht darauf angewiesen, auch Frankreich bei den indischen Megadeals zu berücksichtigen. Der französische Finanzminister Breton ist jedenfalls danach „ganz schön kleinlaut“ geworden.

Wie hat nun Arcelar bisher reagiert? Unprofessionell wäre milde ausgedrückt. Statt den Aktionären vorzurechnen, dass der Wert des Unternehmens eher bei 50 Mrd. Euro liegt als bei knapp 19, spricht man arrogant über die Unvereinbarkeit der Kulturen. Wen interessiert das schon. Mittal hat da sicher eher recht, dass die Kombination der beiden Unternehmen ungeahnte Synergieeffekte bietet. Außerdem hebt Arcelor hervor, dass Mittal ein „Herrschertyp“ sei, der alle Entscheidungen selbst treffe. Ganz so kann das ja wohl nicht sein, sonst wäre er heute nicht ein so hervorragender Unternehmer. Er muss doch ganz exzellente Leute um sich haben, die mit ihm das Unternehmen führen, und wer hätte denn wohl etwas dagegen, wenn der Beste auch das Unternehmen leitet. Herr Dollé, der „Führer“ Arcelors, hat ja bisher auch immer „herumgequatscht“, das er eine Unternehmensgröße anstrebe, die im Resultat der Fusion dieser beiden Unternehmen entspräche. Aber was hat er denn getan? Er hat sich verzettelt mit Übernahmen wie der „kleinen“ Dofasco, die zudem noch viel zu teuer sind. Wenigstens hat Herr Dollé mit seiner Warnung recht, dass der Aktionär mit den Aktien von Mittal möglicherweise Verluste erleiden werde. Jetzt fängt er an, die Aktionäre zu umwerben, indem er ihnen höhere Dividenden und Aktienrückkäufe verspricht. Das ist doch wohl ein bisschen zu spät, um den Aktienkurs noch zu beflügeln und die Gesellschaft für Mittal unbezahlbar zu machen.

Wo könnte nun der „weiße“ Ritter herkommen, der Arcelor noch rettet. Arcelor hatte auf Nippon Steel gehofft, mit der sie eng zusammenarbeitet, aber offensichtlich eine Absage erhalten. Außer Nippon Steel, JFE und Posco kommt ja ohnehin niemand in Frage, und gerade diese Unternehmen sehen ihre Chancen eher in Ostasien als in Nord- und Südamerika oder in Europa. Außerdem haben sie kein Geld und bräuchten deshalb wohl sehr lange, um ihre Aktionäre von diesem strategisch unpassenden Deal zu überzeugen. Jetzt denkt Arcelor darüber nach, US Steel zu kaufen, aber auch andere Namen werden gehandelt, um sich teurer zu machen. Das ist aber wohl auch keine gute Idee, da solche Übernahmen während eines Angebots, das das eigene Unternehmen betrifft, rechtlich sehr bedenklich sind. Außerdem kann sich Arcelor bei der zersplitterten Aktionärsstruktur der Unterstützung ihrer Eigentümer wohl kaum sicher sein, ganz abgesehen davon, dass die Kassen leer gefegt und die Werte verwässert würden. Da hilft es vermutlich auch wenig, dass die Luxemburger Regierung jetzt auf die Schnelle noch ein Gesetz durchbringen will, das es Luxemburger Unternehmen erlaubt, über Maßnahmen zur Abwehr eines feindlichen Übernahmeangebots zu entscheiden, auch ohne zuvor eine Hauptversammlung der Aktionäre einzuberufen. Das wäre ja wohl ein massiver Eingriff in die Eigentümerrechte

Was nun die Strategie des neuen Großkonzerns anbelangt, so gibt es, ganz im Gegensatz zu den Aussagen von Arcelor, sehr gewichtige Argumente: Mittal verfügt offensichtlich über genug Eisenerz und anderen Rohstoffen aus den eigenen Minen in Indien, um den Konzern autark von den nimmersatten Minen, wie CVRD, BHP Billiton und Rio Tinto zu machen. Immerhin hatten sie die Eisenerzpreise im letzten Jahr um satte 70% erhöht. Bisher musste Mittal sein überschüssiges Erz zu Spottpreisen auf den Markt werfen, weil die übergroßen Konkurrenten die bedeutenden Stahlunternehmen dieser Welt durch langfristige Verträge fest im Griff haben. Außerdem werden die Konkurrenten aus der Stahlindustrie Mittal wohl kaum helfen wollen, indem sie ihm das Erz zu gleichen Preisen abnehmen. Das große neue Unternehmen kann also mit Sicherheit die Materialkosten senken. Aber auch Absatz und Kapazitätsauslastungen würden optimiert, wenn alle Stahlprodukte, also die sogenannten „edlen“ und die „schweren“, aus einer Hand kämen. Und das ist ja gerade das, was auch Herr Dollé mit Arclor erreichen wollte, nur dass sein Weg für die Aktionäre sehr teuer geworden wäre. Man wird sehen, wie die Schlacht ausgeht. Der größte Fehler wäre jedoch, wie das ja schon oft passiert ist, Mittal zu unterschätzen. Dann wird er sicher der lachende Dritte sein.

Zusammenfassung

Mittal und Arcelor zusammen wäre mit ungefähr 120 Mio. Tonnen Stahl viermal so groß wie die Gruppe der drei Verfolger, Nippon Steel, JFE und Posco. Sie hätten 10% Weltmarktanteil. Mittal hat gute Chancen. Selbst unangreifbar kann er Angebote für Stahlunternehmen auf den Markt werfen, die weit unter Wert liegen. Er wird nicht der einzige bleiben, dem solche Coups einfallen. Andere werden folgen. Die Konzerne der westlichen Industrieländer können sich gegen solche Attacken nicht wehren. Die Aktionärsstrukturen ihrer Unternehmen sind zersplittert, von sogenannten „Heuschrecken“ durchsetzt, die jeden schnellen Gewinn akzeptieren, um sich neuen Geschäften zuzuwenden, und von ängstlichen Eigentümern beherrscht, die in ihrer Mutlosigkeit nicht mehr zu Investitionen in die Zukunft bereit sind und damit die Werte der Unternehmen niedrig halten.

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Über den Experten

Jochen Stanzl
Jochen Stanzl
Chefmarktanalyst CMC Markets

Jochen Stanzl begann seine Karriere in der Finanzdienstleistungsbranche als Mitbegründer der BörseGo AG (jetzt stock3 AG), wo er 18 Jahre lang mit den Marken GodmodeTrader sowie Guidants arbeitete und Marktkommentare und Finanzanalysen erstellte.

Er kam im Jahr 2015 nach Frankfurt zu CMC Markets Deutschland, um seine langjährige Erfahrung einzubringen, mit deren Hilfe er die Finanzmärkte analysiert und aufschlussreiche Stellungnahmen für Medien wie auch für Kunden verfasst. Er ist zu Gast bei TV-Sendern wie Welt, Tagesschau oder n-tv, wird zitiert von Reuters, Handelsblatt oder DPA und sendet seine Einschätzungen über Livestreams auf CMC TV.

Jochen Stanzl verfolgt einen kombinierten Ansatz, der technische und fundamentale Analysen einbezieht. Dabei steht das 123-Muster, Kerzencharts und das Preisverhalten an wichtigen, neuralgischen Punkten im Vordergrund. Jochen Stanzl ist Certified Financial Technician” (CFTe) beim Internationalen Verband der technischen Analysten IFTA.

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