Wirtschaftboom am Bosporus? Lira-Wechselkurs erzählt eine andere Geschichte
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Die Türkei wächst fast so stark wie China. Das Pro-Kopf-Einkommen hat sich seit dem Jahr 2001 verdreifacht. Die Wirtschaft wächst seit einer Dekade um knapp 5 Prozent im Jahr. Die Staatsverschuldung hat sich in zehn Jahren halbiert, die Inflation ist stark rückläufig. Die türkische Lira kann von dieser Entwicklung trotzdem nicht profitieren, was Fragen nach der Glaubwürdigkeit der Wirtschaftsdaten aufwirft. Das gesamte in diesem Makro View aufgeführte Datenmaterial stammt vom Internationalen Währungsfonds (IWF), wobei dieser auch auf Statistiken der türkischen Regierung zurückgreift und sich darauf verlassen muss, dass die Daten stimmen.
Staatsverschuldung sinkt 50% in 10 Jahren
Die Staatsverschuldung in der Türkei ist in den letzten zehn Jahren um 50 Prozent gesunken. Während die Verschuldungsquote zum BIP im Jahr 2001 noch bei 77,6 Prozent gelegen hat, wird sie Ende 2011 bei 39,4 Prozent erwartet. Ende 2010 lag der Wert bei 41,7 Prozent. Für 2012 wird eine Quote von 37,6 Prozent prognostiziert. Außer in den Jahren der Finanzkrise ist die Verschuldung in der letzten Dekade jedes Jahr zurückgegangen. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Griechenland auch besser werdende Daten vorzuweisen hatte, als das Land in die Eurozone aufgenommen werden wollte.
BIP wächst um 5% p.a. seit einer Dekade Die türkische Industrieproduktion legte im April im Jahresvergleich um 10,4 Prozent zu. Das BIP-Wachstum im ersten Quartal 2011 zog um 8,9 Prozent gegenüber 2010 an. Das Bruttoinlandsprodukt ist in der letzten Dekade um durchschnittlich 5 Prozent im Jahr gewachsen. Die höchsten Wachstumsraten gab es in den Jahren 2004 (9,4 Prozent), 2005 (8,4 Prozent) und im letzten Jahr mit 8,2 Prozent. Der Wert wird nach Schätzungen des IWF 2011 um 4,6 Prozent zulegen. Für das Jahr 2012 erwartet die Regierung einen Wert von 4,5 Prozent. Außer in den Jahren 2001 und 2009 legte das BIP in der Türkei in den letzten zehn Jahren immer kräftig zu. Die Exporterlöse verdoppelten sich seit dem Jahr 2004. Trotz hoher Wachstumsraten liegt das türkische Pro-Kopf-Einkommen nur halb so hoch wie im EU-Durchschnitt.
Demografie verspricht Wachstum Der Alterdurchschnitt in der Türkei liegt bei 28 Jahren, in Deutschland sind es 44 Jahre. Über 65 Jahre sind unter 10 Prozent der Bevölkerung. Fast ein Drittel sind unter 16 Jahre alt. Die Demografie bestimmt das mögliche Wachstum. Rentner sparen und verzehren, junge Menschen produzieren und konsumieren. Eine Gesellschaft mit einem hohen Anteil an Rentnern verliert an Produktivität. Die Türkei hat aufgrund ihrer Demografie die beste Zeit noch vor sich. Der Humankapitalstock in der Türkei wird größer, jener in Deutschland stagniert und geht langfristig zurück.
Erhebliche Strukturdefizite Die wirtschaftliche Kluft zwischen dem industrialisierten Westen und dem wenig entwickelten Osten ist groß. Die Wirtschaft hat erhebliche Strukturdefizite. Für ein Schwellenland ist der Investitionsanteil am Bruttoinlandsprodukt mit 30 Prozent gering. So arbeiten etwa ein Drittel aller Türken in der Landwirtschaft, diese trägt aber nur knapp 12 Prozent zur Wertschöpfung bei. Ein großer Teil des ausländischen Kapitals fließt in den Konsum und nicht in den Aufbau produktiver Strukturen. Offizielle türkische Statistiken gehen für das Jahr 2010 von einem Anteil der Schattenwirtschaft am BIP von 26 Prozent aus. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen ist zu gering, um das demografische Potenzial ausschöpfen zu können.
Chronische Inflationsprobleme
Die Türkei hat chronische Inflationsprobleme. Die letzte Währungsreform war im Jahr 2005 als die alte Türkische Lira durch die Neue Türkische Lira ersetzt wurde. Mitte der 90er-Jahre gab es regelmäßig Phasen der Hyperinflation. Seit dem Jahr 2005 osszilliert die Inflation offiziellen Angaben zufolge unter der Zehn-Prozent- Marke. 2009 und 2010 soll sie bei etwa 6,5 Prozent gelegen haben. Sorgen macht das hohe Kreditwachstum, welches im Jahr 2011 in der Spanne von 20 bis 25 Prozent gehalten werden soll, nachdem es 34 Prozent im Jahr 2010 zulegte. Die türkische Zentralbank hat den Leitzins auf 6,25 Prozent im Januar gesenkt. Das verarbeitende Gewerbe zeigte jüngst das geringste Wachstumstempo in den letzten sieben Monaten. Der private Konsum, die Investitionsneigung und die Arbeitslosenquote näherten sich zuletzt jedoch wieder dem Niveau vor der Finanzkrise. Die hohen Energie- und Rohstoffpreise sind ein zunehmender Belastungsfaktor für die Wirtschaft. Die Inflation wird daher den Zielwert der Notenbank von 5,5 Prozent im laufenden Jahr wieder überschreiten.
Keine Religions- und Meinungsfreiheit In der Kurdenfrage ist keine politische Lösung in Sicht. Seit Mitte der 80er-Jahre gibt es rund 40.000 Tote zu beklagen. Die 15 Millionen Kurden haben weiterhin keine vollen politischen Rechte. Knackpunkt bei den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union sind auch der Zypernkonflikt sowie die nicht vorhandene Religions- und Meinungsfreiheit. In türkischen Gefängnissen sitzen im Schnitt jährlich um die 100 Journalisten ein. Christliche Gruppierungen sind in der Türkei ohne Rechte.
Chart – Divergenz zu Fundamentals Von den hohen türkischen Wachstumsraten ist im EUR/TRY-Chart nichts zu sehen. Vermutlich liegt das an der hohen Inflation, der Skepsis gegenüber dem Wahrheitsgehalt der Wirtschaftsdaten sowie den bekannten Strukturdefiziten. Das Währungspaar ist in einem mehrjährigen Aufwärtstrend und nähert sich dem 2009er-Hoch, das auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erreicht wurde. Oberhalb von 2,3600 könnte der Kurs bis 2,4000 und dann 2,5000 weitersteigen. Die wahrscheinlichere Variante ist, das der Kurs in einigen Monaten wieder nach unten abdreht. Ein Anstieg über 2,3600, was nach klassischer Chartlehre ein Kaufsignal wäre, könnte sich als Bullenfalle entpuppen und gute Shortgelegenheiten eröffnen (Fehlsignale sind die besten Signale!). Noch steht der Chart im Kauf.
Jens Lüders, Technischer Analyst und Redakteur bei Godmode-Trader.deMeine Artikel erscheinen regulär im Forex & CFD Report, den Sie dauerhaft kostenlos abonnieren können: http://bit.ly/iV0iWH
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