Kommentar
08:15 Uhr, 21.09.2012

Über allen Euro-Wipfeln ist Ruh...

Wir schreiben die Kalenderwoche 38 und sind damit in der Woche 1 nach dem die EZB sowie das Bundesverfassungsgericht genau das abgeliefert haben, was sich die Finanzmärkte gewünscht haben: Geld und die Legalisierung des Rettungsschirms. Die neue Stabilität an den Finanzmärkten wird zudem noch durch eine Beendigung der Scharmützel innerhalb der Euro-Politik gestärkt. Jetzt haben wir Ruhe im Karton. Niederschlag findet diese heile Welt zunächst in einem gefestigten Euro gegenüber den wichtigsten Währungen der Welt. Der Kollaps der Eurozone ist offensichtlich für internationale Währungsinvestoren kein akutes Finanzmarktthema mehr.

Freundlich zeigen sich auch die Renditen von italienischen und spanischen 5-Jahres-Staatsanleihen. Ähnlich wie im Zeitraum Ende 2011 bis Frühjahr 2012, als die EZB den Banken brutto fast eine Billion Euro Zentralbankgeld zur Verfügung stellte, hat auch die aktuelle Liquiditätsoffensive der EZB - die Ankündigung unbegrenzter Anleihenkäufe - die Rentenmärkte der Euro-Südzone deutlich stabilisiert. Die letzten Emissionen neuer Staatspapiere z.B. von Spanien konnten zu eindeutig günstigeren Konditionen als vorher abgesetzt werden. Die neue Risikoentspannung in Euroland wird auch vom euroländischen Aktienleitindex Euro Stoxx mit einem Aufwärtstrend honoriert.

Nicht zuletzt spiegelt auch die Wertentwicklung der Anlageklassen insgesamt - in Euro gerechnet - die verringerte Risikoaversion der Anleger wider. Es ist unverkennbar, dass seit dem Rettungsversprechen des Präsidenten der EZB Ende Juli die Sachkapitalmärkte und hier insbesondere die Aktienmärkte deutliche Stabilisierungen zeigen. DAX, Aktien aus den USA, aber auch aus Euroland haben sich neben Gold und Silber kräftig erholt. Sicherlich hat auch die Schützenhilfe einer erneuten Liquiditätsausweitung der US-Fed mitgeholfen, das Sachkapital aus seinem Krisenmodus zu befreien.

Grafik der Woche: Wertentwicklung der Anlageklassen seit 2012

Rezessionen können wir uns gar nicht mehr leisten

Man könnte nun behaupten, dass pure Liquidität noch keinen Konjunkturaufschwung beschert. Zu bedenken ist heutzutage jedoch, dass die Notenbanken weltweit ihre Primäraufgabe nicht mehr in der Stabilisierung von Geldwert und Finanzsolidität, sondern schwerpunktmäßig in der Stabilisierung von Staatsanleihenmärkten angeschlagener Staaten und deren Konjunktur sehen.

Euroland hat mit dieser konjunkturaktiven Rolle der Geldpolitik noch keine Erfahrungen wie die US-Notenbank, die seit Jahrzehnten Konjunkturunterstützung betreibt. Tatsächlich reagiert in Amerika aktuell der Economic Surprise Index - der positive wie negative Abweichungen von den Konsensschätzungen bezüglich Konjunkturdaten misst - auf die Ankündigung von Fed-Präsident Bernanke, den Hypothekenanleihenmarkt mit monatlichen Aufkäufen von knapp 50 Mrd. US-Dollar zu stützen, sprunghaft positiv. Bernanke weiß um die Bedeutung des Immobiliensektors für die US-Wirtschaft und insbesondere seiner Katalysatorfunktion für den Konsum der Amerikaner.

Der US-Häusermarkt zeigt eine fortgesetzt positive Entwicklung. Baubeginne und Baugenehmigungen weisen eine stabile Aufwärtstendenz auf. Und auch der Hauspreisindex der 20 größten Städte der USA zeigt sich erholt.

Euroland tritt in die geldpolitischen Fußstapfen der Fed

In Euroland hat sich der neue geldpolitische Schwung bislang noch nicht offenbart. Die Einkaufsmanagerindices für das Verarbeitende Gewerbe verlaufen in Euroland noch unterhalb der Expansion anzeigenden Marke von 50. Auffallend ist der Einbruch in Frankreich. Die Stimmung in der französischen Industrie hat sich nach den Reformrücknahmen von Hollande und der steuerlichen Schlechterstellung von sogenannten Besserverdienern eingetrübt. Investorenkapital ist eben mobil und nicht auf Frankreich angewiesen. Es ist frappierend, dass man diesen Elementargrundsatz einer globalisierten Welt immer noch nicht begriffen hat. Frankreich entfernt sich damit zunehmend von Deutschland und nähert sich der Euro-Südzone an. Es bleibt zu hoffen, dass Hollande nicht zu sehr die verheerende Politik von Mitterand in seinen ersten Amtsjahren nachahmt.

Aber erstens gibt es auch Aufhellungstendenzen. In Deutschland hat die Stimmung in der Industrie gemäß Einkaufsmanagerindex das zweite Mal in Folge nach oben gedreht. Die Aussichten für eine auch geldpolitisch stimulierte Weltwirtschaft werden günstiger eingeschätzt. Dabei sollten die derzeit schwächeren chinesischen Konjunkturindikatoren nicht überbewertet werden. Auch die Notenbank in China hat längst den Schwenk von der Inflationsbekämpfung weg und zur Konjunkturstabilisierung hin vollzogen. Die Stimulierung der Binnennachfrage ist zudem erste Priorität der chinesischen Wirtschaftspolitik.

Ermutigend sind in diesem Zusammenhang ebenso die Konjunkturerwartungen gemäß ZEW. Die hierbei befragten Analysten offenbarten seit Frühjahr eine schwache Einschätzung der deutschen Industrie. Ihre Einschätzungen fielen dabei deutlich negativer aus als die Befragungen in der Industrie selbst, gemessen an den ifo Geschäftserwartungen. Jedoch hat die geldpolitische Aufbauspritze der EZB zuletzt eine - wenn auch bislang noch kleine - Stimmungsaufhellung bei den Analysten gezeigt.

Zweitens werden die internationalen Notenbanken und jetzt insbesondere auch die EZB an dieser konjunkturellen Stimmungsverbesserung konsequent weiter arbeiten. Ihnen geht es um die nachhaltige Eliminierung der Krisensymptome, die die Wirtschaft psychologisch lähmen. Deflationsszenarien werden mit aller Kraft verhindert. „Dem konjunkturellen Trübsinn ein Ende“ wird das neue Leitmotiv sein. Es ist zu erwarten, dass die EZB noch in diesem Jahr die Leitzinsen erneut auf dann 0,50 Prozent senken wird. Dies mag nur eine symbolische Geste sein, da das Zinsschwert konjunkturtechnisch stumpf geworden ist. Aber damit dokumentiert die EZB eindeutig, dass sie es ernst mit ihrer neuen Mission meint. Auch in Euroland werden wir japanische Verhältnisse bekommen. Nicht nur die Zinsen - also die Qualität des Geldes - werden zur Wirtschaftsstabilisierung noch lange niedrig bleiben, und zwar am kurzen wie am langen Ende. Auch die bisherige quantitative Form der Geldpolitik - die Liquiditätsausweitung - muss man erst als den Beginn einer großen Leidenschaft betrachten. Denn die EZB wird Staatsverschuldung - wenn nötig - auch gegenfinanzieren. Dabei wird man vor allem auf die "gute" Verschuldung hinweisen. Das Prädikat "gut" werden insbesondere Infrastrukturprojekte tragen. Insofern bekommt das Schuldenthema ein hübscheres Kleidchen.

Die weltweiten Notenbanken werden mit aller Kraft einen Konjunkturrückschlag wie 2009 zu verhindern versuchen. Sie werden versuchen, Wirtschaftsabschwünge dramatisch abzukürzen. Noch einmal so ein verheerendes Konjunkturjahr halten unsere volkswirtschaftlichen und Finanzsysteme nicht mehr aus. Denn eine ähnlich wie damals notwendige Neuverschuldung zur Stützung der Wirtschaft ist nicht mehr darstellbar. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die euroländische Wirtschaft zum Jahresende hin nicht mehr schrumpft und im nächsten Jahr wieder - wenn auch leicht - wächst.

Eine Lanze für Sachkapital brechen

Der neue geldpolitische Wind, der weht, hat unmittelbare Auswirkungen auf die Vermögensaufteilung der Anleger. Einen Überblick, wann welche Anlageklasse grundsätzlich attraktiv ist, gibt die Anlage-Uhr.

Grundsätzlich orientiert sich die Über- bzw. Untergewichtung von Anlageklassen am Wirtschaftszyklus, also an Aufschwung, Boom, Abschwung und Rezession. Dieser wird auch von den Notenbanken stimuliert bzw. behindert, indem sie je nach Inflationsszenario mit Zinserhöhungen und Liquiditätsabschöpfungen bzw. Zinssenkungen und Liquiditätsausweitungen gegensteuern.

In der Abschwungphase sind typischerweise Geldmarktanlagen attraktiv, da die Notenbanken hier mit Zinserhöhungen zur Inflationsbekämpfung deren Attraktivität steigern. Aus besagten Gründen werden aber Zinserhöhungen ausbleiben (müssen). Die Renditen von Festgeld & Co. bleiben also niedrig und werden durch den Inflationsdruck zusätzlich aufgezehrt. In einer Rezession sind üblicherweise Staatsanleihen attraktiv, da sie wegen einer verschlechterten Konjunktur Renditerückgänge und damit Kursgewinne versprechen. Im aktuellen Szenario sind die Renditen von Staatsanleihen jedoch schon so kräftig gefallen, dass sie keine Kursperspektive mehr bieten. Auch hier sorgt die Inflation für negative Realzinsen. Obwohl wir uns in der Eurozone derzeit in der Abschwungphase - einige Länder durchleben sogar Rezession - befinden, spricht für Zinsvermögen in Form von Geldmarktanlagen bzw. Staatspapieren wenig bis nichts.

Bleiben die Aufschwung- bzw. Boomphasen. In diesen Phasen sind Sachkapitalanlagen wie Aktien, Edelmetalle oder Immobilien anzuraten. Wir mögen zwar momentan nicht typischerweise in einer dieser Phasen sein. Doch die Aufschwungphase wird über das sehr offensive Vorgehen der Notenbanken begünstigt. Da auch bei Auftreten von Inflationstendenzen - wie im Augenblick über administrative Preissteigerungen oder bei Agrarrohstoffen - die Notenbanken zur Sicherstellung der konjunkturellen Stabilität nicht die Zins- oder Geldbremse ziehen werden, ist von einem Wirtschaftsaufschwungs mit dann auch wieder besseren Gewinnperspektiven für Unternehmen auszugehen, die insbesondere Aktien neben dem Liquiditätsargument zusätzlich stützt. Insgesamt wird die sachkapitalistische Phase noch lange - ohne Beeinträchtigung durch Notenbanken, sondern mit deren Unterstützung - anhalten.

Unterstützung erhält das pro-sachkapitalistische Bild ebenso durch die Betrachtung der Renditen der verschiedenen Anlageklassen. Während Geldmarkt, Staats- bzw. Unternehmensanleihen nach Inflation nur schwache Renditen bieten, deuten die preisbereinigten Eigenkapitalrenditen von Unternehmen in den USA, in den Schwellenländern, in Deutschland und in Euroland auf eine eindeutige und stabile Lage hin.

Plastisch veranschaulicht wird die geldpolitische Begünstigung von Sachkapital bei Vergleichs der Liquiditätsausstattung der Finanzmärkte - gemessen an der zusammengefassten Bilanzsumme der US-Notenbank, des euroländischen Zentralbanksystems und der Bank of Japan - mit der Entwicklung des weltweiten Aktienindex MSCI World.

Der Preis des Friedens in der Eurozone

Ist es Ihnen auch schon aufgefallen? Die Krise in Euroland beherrscht nicht mehr die Schlagzeilen von Zeitungen, die Aufmacher von Nachrichtensendungen oder die vielen Talkshows. Und tatsächlich haben auch die Euro-Politiker ihren Beziehungsstress beigelegt. Noch auf dem Krawall-Euro-Gipfel Ende Juni herrschte - diplomatisch ausgedrückt - Disharmonie unter den Regierungschefs. Ich erinnere mich an ein Gipfelfoto, auf dem eine sich unbeobachtet glaubende Kanzlerin Merkel Herrn Monti einen Blick zuwarf, den man eigentlich nur von der lieben Schwiegermama in besonders kritischen Situationen kennt.

Und jetzt? Freundlichkeit und Respektzollung und natürlich Küsschen hier und Küsschen da. Ich habe den Eindruck, dass in der Eurozone der sibirischen Super-Winter urplötzlich in einen warmen, italienischen Frühling übergegangen ist.

Zwischen den Euro-Politikern passt kein Blatt mehr

Ist die Euro-Krise also vorbei? Haben wir wieder Friedenszeiten? Für mich ist eine mindestens sehr ausgedehnte Feuerpause. Unsere Damen und Herren Euro-Politiker haben endlich begriffen, dass sie mit ihren auch noch öffentlich ausgetragenen Kleinkriegen um den richtigen Euro-Kurs den Vertrauensschaden, nein, das Elend der Eurozone maßgeblich selbst zu verantworten haben. Bereits jedes Vorstandsmitglied eines Karnickelzuchtvereins weiß doch um die Bedeutung friedensstiftender Psychologie. Worte zerstören, wo sie nicht hingehören. Euro-Bürger empfinden keine vertrauensvollen Gefühle für das Mega-Bauprojekt Euroland, wenn die verantwortlichen Architekten offenkundig schon mit der Errichtung der Bodenplatte ihre liebe Müh haben.

Die Wiederbelebung von Keynes, zumindest die erste Hälfte davon

Jetzt also Milde und Harmonie wie bei der besten Bohne von Tchibo. So bekommt Griechenland jetzt noch mehr Zeit und ich bin mir sicher, dass demnächst Spanien als Gegenleistung für die solidarische Finanzunterstützung der Euro-Bruderländer sich nicht mit allzu viel Reformdruck wird kasteien müssen. Sie säen nicht, sie ernten nicht und dennoch hat die Euro-Familie sie lieb. Übrigens Verschuldung abbauen? Ich bin überzeugt, dass über die politische Renaissance der keynesianischen Gesundbetung das Leitmotiv euroländischer Finanzpolitik wieder mehr und nicht weniger staatliche Konjunkturstützung sein wird. Die Argumente dafür sind doch bestechend einfach. Muss man nicht zuerst einmal die Wirtschaft wieder ans Laufen bekommen, damit sie über Steuereinnahmen auch der Finanzpolitik Luft verschafft? Wer will an dieser messerscharfen Logik zweifeln?

Es ist zu befürchten, dass dabei das Lehrbuch von Keynes aber erneut nur bis zur Hälfte gelesen wird. Beim zweiten Teil seiner Wirtschaftstheorie, in der er klar beschreibt, bei verbesserter Konjunktur über Steuererhöhungen bzw. Ausgabenkürzungen die Staatsschulden - und damit auch den Inflationsdruck - wieder zurückzuführen, schalten Politiker interessanterweise immer, immer, immer auf Durchzug. Tja, ein Besuch in der Kneipe „Zur fröhlichen Instabilität" verkauft sich bei den Wählern immer besser als ein Aufenthalt in der Entziehungsanstalt „Stabilität tut weh". Welcher Politiker spielt schon gerne die Spaßbremse?

Der Friedensnobelpreis für die EZB?

Aber grundsätzlich brauchen sich die Finanzminister vom eventuell rudimentär noch vorhandenen schlechten Finanzgewissen nicht länger quälen zu lassen. Denn nach dem kräftigen Zug aus der Verschuldungspulle nimmt die EZB der Fiskalpolitik den Kater doch gerne ab. So werden die Zinsen durch die Notenbank staatskapitalistisch gedrückt und für den Absatz der neuen Staatspapiere trägt sie auch noch Sorge. Marktwirtschaft an den Anleihenmärkten ist damit zwar zur aussterbenden Spezies geworden. Aber sehen wir doch über diesen kleinen Fehler hinweg. Würdigen wir doch bitte eher die EZB als den eigentlichen Friedensstifter der Eurozone. Sie meint es nur gut: Sie zwingt die Finanzmarktakteure durch ihre Geldpolitik doch nur zur Friedenspflicht. Wo sonst sieht man aktuell so viele Friedenstauben auf einmal wie an den Kapitalmärkten: Stabile Aktienkurse gehören ebenso zur neuen heilen Finanzwelt wie rapide sinkende Staatsanleiherenditen der bislang fußkranken Euro-Länder, die plötzlich wieder ohne zu humpeln laufen können.

Auch die Friedenstauben fliegen nicht umsonst

Was allerdings das ach so friedliche Bild stört, sind die weiter auf hohem Niveau notierenden Preise für Gold und Silber. Eigentlich hätten diese klassischen, sicheren Häfen nach der Friedensmission „Unbegrenzte Anleihenkäufe durch die EZB“ dramatisch und nachhaltig einbrechen müssen. Immerhin sind die Gefahren durch die Krise in Euroland zumindest vorerst gebannt. Aber der erzwungene Frieden in der Eurozone wird uns einen hohen Preis abverlangen: Inflation, ich meine die tatsächliche, nicht die offizielle.

Politik und Geldpolitik haben zwar dafür gesorgt, dass in Euroland jetzt über allen Wipfeln Ruh ist. Aber schauen wir bitte nicht unter die Baumkrone. Da hat sich der Borkenkäfer längst breit gemacht.

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