Nachricht
11:44 Uhr, 10.09.2024

Studie: Deutsche Industrie mehr als je zuvor unter Druck

Von Andrea Thomas

BERLIN (Dow Jones) - Der industrielle Standort Deutschland ist einer Studie zufolge mehr als je zuvor unter Druck und das Risiko einer De-Industrialisierung nimmt zu. Rund ein Fünftel der industriellen Wertschöpfung in Deutschland ist demnach bedroht. Um auch in Zukunft international wettbewerbsfähig zu sein, seien zusätzliche private und öffentliche Investitionen in Höhe von 1,4 Billionen Euro bis 2030 nötig, so die Ergebnisse der Studie "Transformationspfade", die die Strategieberatung Boston Consulting Group (BCG) und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) erstellt haben.

Die langfristig hohe Energiepreise, Arbeitskräftemangel, zu viel Bürokratie, mangelnde Investitionen und hohe Steuern belasten demnach den Standort im internationalen Vergleich. Die Experten forderten, dass mit wettbewerbsfähigen Energiepreisen, schnellen Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie einer modernisierten und weiter ausgebauten Infrastruktur für Deutschland die Probleme angegangen werden.

Der BDI forderte massive private und öffentliche Investitionen im Volumen von zusätzlich 1,4 Billionen Euro bis 2030, da nur mit diesen Investitionen die erfolgreiche Transformation hin zu einem zukunfts- und wettbewerbsfähigen Standort gelingen könnte. Der private Sektor müsse zwei Drittel der notwendigen Investitionen tragen, womit das verbliebene Drittel staatliche Investitionen sein sollten.

"Die Zeiten für kleinteilige Regulierung, politische Feinsteuerung und vage Absichtserklärungen sind vorbei. Um Deutschland im internationalen Wettbewerb wieder nach vorn zu bringen und unsere Transformationsziele zu erreichen, braucht es jetzt den großen Wurf: Wir müssen alle Innovations- und Wachstumskräfte dieses Landes entfesseln und dringend mehr Tempo machen. Dann ist der Standort der schleichenden De-Industrialisierung nicht hilflos ausgeliefert", sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm bei der Vorstellung der Studie am Dienstag in Berlin.

Neue Balance zwischen Ökologie und Ökonomie

Es müsse zudem eine neue Balance zwischen Ökologie und Ökonomie gefunden werden. Technologisch bleibe die Dekarbonisierung auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045 möglich und machbar. Doch in dem von der Politik angepeilten Zeitplan werde ihre Umsetzung täglich unrealistischer. Politisches Mikromanagement und fehlender marktwirtschaftlicher Reformwillen lähmten die Unternehmen.

"Die Transformationspfade-Studie ist ein lauter Weckruf der Industrie für dringend notwendige Veränderungen im Land", sagte Russwurm. "Das Risiko einer De-Industrialisierung durch die stille Abwanderung und Aufgabe gerade vieler Mittelständler nimmt kontinuierlich zu und ist teils schon eingetreten."

Wettbewerber laufen deutscher Industrie davon

Zeit und Wettbewerber liefen der deutschen Industrie davon. Um den Standort international fit zu machen und die grüne und digitale Transformation zu schaffen, müsse die Politik ihre industriepolitische Agenda neu ausrichten. "Im Kern muss diese Agenda mit dem Dreiklang aus ökologischem Fortschritt, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und technologischer Offenheit Ernst machen und den in vielen Zukunftsbranchen global führenden deutschen Unternehmen Entfaltungs- und Wachstumschancen eröffnen, statt Hindernisse in den Weg zu legen", forderte Russwurm.

Schnelle Konjunkturprogramme keine Lösung

Laut Analyse des BCG und IW ist es vor allem die Summe struktureller Probleme, die den Wirtschaftsstandort Deutschland ausbremst. Schnelle Konjunkturprogramme seien daher keine Lösung dafür. Die im internationalen Vergleich wenig attraktiven Rahmenbedingungen am Standort hätten dazu geführt, dass sowohl öffentliche als auch private Investitionen in Deutschland in den vergangenen 30 Jahren deutlich unter den Investitionsquoten in anderen Industrieländern lagen.

Das Ergebnis sind laut Studie Defizite im Glasfaserausbau, dem Bildungsniveau und der Verkehrsinfrastruktur. Hohe Energiepreise und aufwändige bürokratische Berichtspflichten binden Kapital und andere Ressourcen, die für Investitionen und Innovationen fehlen.

"Die Wiederherstellung unserer Wettbewerbsfähigkeit ist die dringlichste Aufgabe der kommenden Jahre. Nur mit einer innovativen und kompetitiven Wirtschaft werden wir unseren Wohlstand und damit auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zukunft sichern können", sagte Michael Brigl, Zentraleuropachef von BCG.

Der Analyse zufolge sind in Deutschland die Industriesektoren durch enge Lieferbeziehungen und andere Abhängigkeiten stark verflochten. "Allein die Grundstoffindustrien - um ein Beispiel zu nennen - lösen indirekt rund 84 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung in anderen Branchen aus", erklärte Michael Hüther, Direktor des IW. "Durch diese Verflechtung kann in Krisensituationen die Schwäche einer einzelnen Branche die Wertschöpfung schneller in der Breite gefährden." Eine erfolgreiche Wirtschaft brauche eine starke Industrie. Industrielles Wachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit müssten im politischen Handeln wieder zur Top-Priorität werden, so die Studie.

Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com

DJG/aat/apo

Copyright (c) 2024 Dow Jones & Company, Inc.