Politik oder es lebe der Augenblick
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In Griechenland ist die Schuldentragfähigkeit zumindest auf dem Papier wieder hergestellt. U.a. mit einem vom Euro-Rettungsschirm EFSF finanzierten Schuldenrückkauf, der Stundung der bisher vergebenen EFSF-Kredite um zehn Jahre, einer Laufzeitverlängerung aller Hilfskredite um 15 Jahre und Zinsvergünstigungen hat die Euro-Politik alle Register gezogen, um Griechenland kurzfristig zu stabilisieren. Damit steht der Auszahlung der verbleibenden Hilfstranchen für 2012 von insgesamt rund 44 Mrd. Euro nichts mehr im Wege. Der unausweichliche Schuldenschnitt für Griechenland kommt erst nach der Bundestagswahl.
Die Euro-Krise verliert an Bedeutung, zumindest vorerst
Mit der Etablierung dieser Politik der kleinen Schritte ist immerhin ein Baustein für die Stabilisierung der euroländischen Krise gesetzt, auch wenn es nur ein Zeitgewinn ist. Stabilisierungen zeichnen sich jedoch ebenso für ein wirklich bedeutendes Problemkind, Spanien, ab. Das Land erhält 37 Mrd. Euro aus dem Euro-Rettungsschirm ESM zur Stabilisierung seiner verstaatlichten Banken. Damit können endlich die dringend erforderlichen Immobilienabschreibungen getätigt und somit die Immobilienkrise angegangen werden.
Diese politische Beruhigung zeigt sich auch an den Finanzmärkten. Mit zunehmender Klarheit über die griechischen und spanischen Entspannungsübungen setzen die Risikoaufschläge 5-jähriger spanischer und italienischer zu deutschen Staatsanleihen ihren Abwärtstrend fort. Von dieser Risikoentspannung in Euroland profitieren nicht zuletzt auch euroländische Aktien: Der Leitindex Euro Stoxx 50 kann sich deutlich stabilisieren und die kürzlichen Kursverluste nicht nur aufholen, sondern sogar überkompensieren.
Die wieder eingekehrte Ruhe in Euroland ist auch an der festen Entwicklung der Gemeinschaftswährung abzulesen. Zwar gibt der Euro insbesondere gegenüber den rohstoffgedeckten Währungen Australiens und Norwegens im Trend nach. Gleiches gilt für die Schwedische Krone, die von ihrem europäischen Alternativstatus zum Euro profitiert.
Aber im Vergleich zu den wirklich wichtigen Weltwährungen chinesischer Renminbi, japanischer Yen, brasilianischer Real und US-Dollar - wieder über 1,30 - ist eine Befestigung seit dem Rettungsversprechen der EZB Ende Juli unverkennbar, die sich im Zuge der Euro-politischen Stabilisierung Griechenlands noch weiter verstärkte. Der Euro hat deutlich an Gefahrenpotenzial für internationale Währungsinvestoren verloren.
Und schließlich profitieren auch europäische Bankentitel von der Beruhigung der Euro-Krise, da sie die grundsätzlichen Halter von euroländischen Staatsanleihen sind. Bestärkt durch die Fortsetzung der „Romanischen Schuldenunion“ werden sie als grundsätzlich weniger riskant wahrgenommen. Der Risikoaufschlag 2-jähriger europäischer Bankanleihen hoher Bonität (A) zu deutschen Staatsanleihen zeigt sich weiter dynamisch rückläufig und befindet sich auf dem niedrigsten Stand seit August 2011. Davon profitiert die Kursentwicklung von Banken, die im Vergleich zum europäischen Aktienmarkt - Basis Euro Stoxx - ihre Stabilisierungstendenzen fortsetzen können.
Grafik der Woche: Wertentwicklung europäischer Banken relativ zum europäischen Aktienmarkt, indexiert und Risikoaufschlag bonitätsstarker 2-jähriger Bankanleihen zu deutschen Staatsanleihen, in Basispunkten
Keine Angst vor Amerika
In Amerika nimmt die Konjunkturerholung weiter Fahrt auf. Dies unterstreichen nicht zuletzt verbesserte Auftragseingänge für langlebige Güter. Dieses aufgehellte Bild passt zum US-amerikanischen Economic Surprise Index, der positive wie negative Abweichungen von den Analysteneinschätzungen der Wirtschaftsdaten erfasst. Der Index zeigt seit drei Monaten positive Überraschungswerte an.
Die durch diesen Überraschungs-Index angezeigte Konjunkturstabilisierung ist stets auch ein bedeutendes pro-Argument für US-Aktien.
Das politische Amerika wird diese Wirtschaftsentwicklung nicht gefährden. Die schon sprichwörtliche "Fiskalische Klippe" wird bis zum 21. Dezember umschifft worden sein. Denn bereits heute schlagen sowohl Demokraten als auch Republikaner Töne an, die nicht mehr jene Unversöhnlichkeit signalisieren, mit der Amerika im Sommer 2011 seine Zahlungsfähigkeit in Gefahr brachte und die Finanzmärkte irritierte.
Ohnehin werden die Republikaner ihre fiskalpolitische Kontrahaltung nach der Wahlniederlage bei der Präsidentenwahl nicht mehr strikt aufrechterhalten können. Und sollte es wider Erwarten wirklich hart auf hart kommen, wird man die Lösungsfindung im schlimmsten Fall um ein Jahr verschieben, die Schuldenobergrenze in Amerika anheben - wenn auch nur in geringerem Ausmaß - aber die US-Volkswirtschaft nicht über ansonsten automatische Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen der Rezessionsgefahr aussetzen. Bis zu einer Lösung sind zwischenzeitliche Störmanöver für US-Aktien zwar nicht auszuschließen, aber dass es zu einer Lösung kommt, ist politisch unabdingbar.
Auch die fundamentale Seite der USA ist nicht zu verachten
Die US-Konjunkturerholung schlägt sich in einer stabilen Entwicklung der US-Unternehmensgewinne - gemessen an den MSCI US-Aktienindices - nieder. Pharma- und Konsumwerte setzen ihren positiven Gewinntrend im Hinblick auf die gerade in den Schwellenländern zunehmende Kaufkraft, aber auch deren Markennamenorientierung fort.
Selbst die Gewinntrends der amerikanische Technologie- und Industriewerte zeigen sich deutlich vom annus horribilis 2009 erholt, sie verzeichnen stabile Gewinnentwicklungen. Amerikanisches Know How ist in Übersee offensichtlich auch gefragt ist. Lediglich die Finanzindustrie hält sich zurück. Hier schlägt sich die Gefahr zunehmender Regulierungen und erhöhter Eigenkapitalvorschriften nieder. Immerhin liefern die Stabilisierung am US-Immobilienmarkt und die damit verbundene Belebung des Hypothekengeschäfts eine bedeutende Stütze.
Und was passiert in der nächsten Woche?
Nachdem vorerst wieder politische Ruhe in die Euro-Krise eingekehrt ist, geht von dem regulären Treffen der Eurogruppe keine Gefahr für die Aktienmärkte aus.
Die Fundamentaldaten geraten damit wieder zunehmend in den Vordergrund. So wird in der nächsten Woche die globale Konjunkturstimmung wieder für Bewegung an den Börsen sorgen. Dabei deutet alles auf einen erneuten Rückgang der Konjunkturskepsis in der Weltwirtschaft hin. Der erneut Expansion anzeigende chinesische Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe dürfte für weitere Erleichterung an den Aktienmärkten der Exportländer - also auch in Deutschland - sorgen.
In Amerika deutet der ISM Index für das Verarbeitende US-Gewerbe weiterhin auf wirtschaftliche Expansion hin. Die US-Arbeitsmarkterholung dürfte sich mit moderatem Tempo fortsetzen. Es bleibt abzuwarten, inwiefern Hurrikan Sandy hier seine Schleifspuren hinterlassen hat. Die klare geldpolitische Konjunkturunterstützung bleibt ohnehin ein wichtiges Rettungsnetz.
In Deutschland dürften die Auftragseingänge in der Industrie unterdessen den anhaltenden konjunkturellen Gegenwind vor Augen führen.
In Euroland wird die EZB auf ihrer Zinssitzung außer einer Bekräftigung des Euro-Rettungsversprechens zunächst keine neuen Details zu den Hilfen der EZB bekannt geben. Trotz auch von der EZB negativ revidierter Wachstumsprognosen für die Euro-Wirtschaft im kommenden Jahr dürfte der Notenbankzins vorerst unangetastet bleiben.
Aus charttechnischer Sicht kann es nach den deutlichen Kursgewinnen der vergangenen Tage zu einer Gegenreaktion kommen, die bei 7250 und darunter bei 7194 Punkten auf erste Unterstützungen trifft. Darunter geben die nächsten Marken im Bereich der 7000 Punkte sowie bei 6950 und 6875 Zählern Halt.
Auf der Oberseite liegen die ersten Widerstände im Bereich um die 7450 Punkte. Darüber liegen Kursgewinne bis zur nächsten Hürde bei 7478 sowie 7523 Punkten im Bereich des Möglichen. Eine weitere Barriere besteht am Vorjahreshoch bei 7600 Punkten.
Mit dem politischen Harmoniekurs hüben wie drüben - Euroland und USA - ist eine Jahresend-Rallye mit Kurszielen beim DAX bis 7800 Punkten wieder wahrscheinlicher geworden.
Halvers Woche:
Wenn die Politik sich über den Winter rettet
Eine Fähigkeit kann man der Euro-Politik nun wirklich nicht absprechen. Sie ist sehr unorthodox bei der Wegdrückung selbst der größten Probleme. Ein besonderes Paradebeispiel für diese "pragmatische" Politik ist das lockere Händchen, das man im hellenischen Krisenland beweist. Selbst vor dem tiefsten Griff in die Kiste der kreativen Buchführung - man könnte auch von Bilanztricks sprechen - scheut man nicht zurück, um einen weiteren Zeitgewinn für Griechenland und für Euroland herauszuholen. Mit dem fünffachen Trommelschlag aus erstens Schuldenrückkauf mit wohlgemerkt fremdem Geld, zweitens Zinsreduktionen und drittens Zinsstundungen bei griechischen Krediten, viertens Laufzeitverlängerungen aller Kredite um direkt einmal 15 Jahre nach dem Motto „Nach uns die Sintflut“ sowie fünftens dem griechenlandbegünstigenden Verzicht des Bundes auf Gewinne der EZB über etwa drei Milliarden in den nächsten drei Jahren haben die Griechenland-Versteher ein besonderes Überraschungs-Ei präsentiert. Insbesondere der fünfte Punkt räumt schonungslos mit der monstranzenhaft vorgetragenen Mär auf, dass Deutschland an den griechischen Krediten noch verdient.
Mit welcher Begründung will man eigentlich anderen prekären Euro-Ländern diese nur noch winterschlussverkaufsgleichen Vergünstigungen verweigern? Wer jetzt noch absurderweise von europäischer Stabilitätsunion spricht, sollte sich seinen Nachnamen im Pass noch einmal genauer ansehen: Er kann nur Pinocchio lauten.
Das dicke Ende kommt
Die Politik versucht mit allen Mitteln, die Griechen von 190 Prozent im nächsten Jahr bis 2020 auf einen Schuldenstand von 124 Prozent zur Wirtschaftsleistung zu bringen. Dass dieser Operation „Glücksrittertum“ phantasievolle, besonders unrealistische griechische Wachstumsannahmen von real 3,5 Prozent zugrunde liegen, verschweigt des Dichters Höflichkeit. Grundsätzlich hätte man als Politiker - oder Politikerin - bis 2020 unendliche viele Gelegenheiten, frühere, falsche, schöngeredete Annahmen aufgrund von plötzlich völlig „überraschenden“ Schocks zu rechtfertigen oder gerade zu biegen. Aber vielleicht muss man bis dahin auch gar nicht mehr regieren und verdingt sich als Vortragsreferent. Ist ohnehin lukrativer.
Grundsätzlich wird man sich an die großen griechischen Brocken erst Anfang 2014 wagen. Dann erst werden wir aus dem Beruhigungsschlaf der Marke „Alles wird gut“ geweckt. Was Du Politiker heute kannst besorgen, verschiebe aus wahltaktischen Gründen lieber auf morgen. Denn morgen, das heißt nach der Bundestagswahl, wo eine von vielen angestrebte Große Koalition dem Unausweichlichen nicht mehr ausweichen kann und auch nicht mehr ausweichen muss, weil es keine große Opposition mehr gibt. Dann gibt es den griechischen Schuldenschnitt, der den deutschen Steuermichel kalt erwischen wird.
Den Augenblick genießen
Aber morgen ist morgen und heute ist heute. Immerhin hat die Kuh zunächst das brüchige griechische Eis verlassen. Griechenland als der emotionalste Fokus der eurozonalen Probleme wird sich zunächst vom Krisenradar verabschieden. Damit kommt die Euro-Politik gut über den Winter.
Und die Finanzmärkte? Sie haben längst aufgegeben, auf nachhaltige Lösungen zu hoffen. „Warum in die Ferne schweifen, sieh’ das Gute liegt so nah“ ist ihr Motto. Wie die Politik, hat auch die Finanzindustrie gelernt, auf Sicht zu fahren. Es zählt der angenehme Augenblick. Immerhin muss der kurzfristige Erfrierungstod aufgrund der politischen Heizdecken nicht befürchtet werden. Ich denke, das wäre auch das Instrument, um die spanische Grippe wegzuheizen.
Über den Winter kommen gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für die Finanzmärkte. Und wie man bei Staatsanleihen von Italien und Spanien sowie den Aktienkursen sieht, scheint man für die Wärme der Politik sehr dankbar zu sein. Wenn einem so viel Gutes wird beschert, das ist schon eine Jahresend-Rallye wert.
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