Kommentar
15:55 Uhr, 25.05.2016

Noch vorhandene Aktien-Barrieren werden geräumt

Mit Wechselstrom-artiger Zinserhöhungsrhetorik „Wir erhöhen die Leitzinsen, wir erhöhen sie nicht“ haben die US- Notenbanker lange Zeit für viel Unruhe an den Finanzmärkten gesorgt. Nun mehren sich die Anzeichen, dass der US-Leitzins auf der nächsten Notenbanksitzung am 15. Juni 2016 vor allem als Beweis für ihre geldpolitische Unabhängigkeit erhöht wird. Doch signalisieren die Rohstoffmärkte anhand ihrer relativen Stärke, dass die Fed sich anschließend in zinspolitischer Zurückhaltung übt. Trotz einem Achtungserfolg sollte die Konjunkturstimmung in Deutschland den DAX dennoch weniger beflügeln. Immerhin werden durch den politischen Zeitgewinn eines wenn auch stinkend faulen Schuldenkompromiss für Griechenland und Umfragen, die auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU hindeuten, politische Aktien-Hindernisse überwunden.

Seit Mitte Mai zeigt sich an den Derivatemärkte für Fed Funds Futures ein sprunghafter Anstieg der Wahrscheinlichkeiten für Zinserhöhungen. Laut Finanzdatenanbieter Bloomberg liegen diese für die kommende Fed-Sitzung am 15. Juni 2016 bei 34 (zuvor vier) Prozent sowie im September bis Jahresende zwischen rund 60 und 80 Prozent (zuvor 34 bis 53).

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An den Devisenmärkten spiegelt sich diese Einschätzung in Form einer erneuten US-Dollar-Aufwertung wider. Die Währungen der Schwellenländer verloren gegenüber US-Dollar zuletzt wieder an Stabilität. Ein ebenfalls zur Schwäche neigender Euro dient zumindest psychologisch als Argument für die exportsensitiven Aktienmärkte der Eurozone, speziell Deutschland.

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Die Fed lässt die Katze aus dem Sack

Grundsätzlich spricht die im historischen Vergleich verhaltene und inflationsarme, nationale und Weltkonjunktur, aber auch die ansonsten bestehende Gefahr einer investitionsfeindlichen Kapitalflucht aus den Schwellenländern in die USA zwar weiterhin nicht für eine weitere Zinserhöhung.

Zur Aufrechterhaltung ihrer geldpolitischen Glaubwürdigkeit und auch nach ihrer zuletzt deutlich falkenhafteren Zinsrhetorik dürfte die Fed allerdings die Notenbanksitzung am 15. Juni 2016 als Gelegenheit nutzen und ihren Worten auch Taten folgen lassen. Sie würde damit zumindest klare Fakten an den Finanzmärkten schaffen, die durch die Schaukelrhetorik von Frau Yellen seit ihrem Amtsantritt irritiert wurden. Nach Vollzug der Zinserhöhung wird sie jedoch Beruhigungspillen verteilen, die eine Wiederholung früherer, strikter Zinserhöhungszyklen ausschließen. Entsprechende Signale hierfür könnte der „Dot Plot“, also die Zinserwartungen der Fed-Mitglieder aussenden.

Kein Ende der Rohstofferholung

Vor diesem zahmen Zinshintergrund findet auch die Erholung bei Rohstoffen kein jähes Ende. Der historische Zusammenhang, wonach eine scharfe zinserhöhungsbedingte Aufwertung des US-Dollars eine ebenso markante Korrektur der Rohstoffnotierungen - sie entwickeln sich gegenläufig - nach sich zieht, hat an Kraft verloren.

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Zwar haben die Ölpreise zuletzt etwas nachgegeben, nachdem die Waldbrände in der kanadischen Ölprovinz Alberta und damit die Angebotsunterbrechungen in Nordamerika wieder weitestgehend unter Kontrolle sind. Dennoch nimmt der zugrundeliegende Erholungstrend bei Rohöl dadurch keinen Schaden. Laut International Energy Agency (IEA) nimmt das Öl-Angebot außerhalb der OPEC wegen der spürbar rückläufigen US-Ölproduktion deutlich ab, während sich die weltweite Öl-Nachfrage robust zeigt. Diese Entwicklung spricht in der zweiten Jahreshälfte für ausgeglichene Rohölmärkte und damit eine zumindest widerstandsfähige Preisbefestigung selbst ohne eine Einigung der OPEC auf Förderobergrenzen im Rahmen ihres nächste Woche anstehenden Treffens. Die weltkonjunkturelle Kaufkraft der Rohstoffländer bleibt insgesamt stabil.

Deutsche Aktien fundamental noch mit Ladehemmungen

Die Finanzanalysten des ZEW stellen der deutschen Wirtschaft in puncto Konjunkturerwartungen nur ein wenig dynamisches Zeugnis aus. Immerhin sind die ifo Geschäftserwartungen zuletzt mit einem Indexwert von 101,6 das dritte Mal in Folge gestiegen und haben einen positiven Trend ausgebildet. Von früheren Hochständen sind die Geschäftserwartungen allerdings noch weit entfernt.

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Grundsätzlich sollte das Wirtschaftswachstum im I. Quartal zum Vorquartal von 0,7 Prozent (auf Jahresbasis 1,6 Prozent) - und damit der stärkste Anstieg seit zwei Jahren - nicht überschätzt werden. Das Gleiche gilt für die 2016 aufgehellten Wachstumsprojektionen der Deutschen Industrie- und Handelskammer von 1,3 auf 1,5 Prozent. Sie sind maßgeblich auf die geldpolitisch äußerst günstigen Zinszustände zurückzuführen, die Zinssparen zum „Masochismus“ und Kreditaufnahmen attraktiv machen. Von dieser künstlichen Konjunkturbefruchtung profitierten die volkswirtschaftlichen Nachfragesegmente Konsum und Bau.

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Angesichts der beispiellos niedrigen Kreditzinsen hätte Deutschland auf Jahresbasis jedoch um mindestens zwei Prozent zulegen müssen. Dem stehen als Handicaps jedoch schwache Unternehmensinvestitionen und ein verhaltenes Exportumfeld im Wege. Die Schwellenländer wachsen verhaltener und auch die USA haben sich von früher deutlich robusteren Wirtschaftswachstumsraten verabschiedet. Und dennoch, auch wenn der weltkonjunkturelle Kuchen kleiner wird, muss Deutschland wirtschaftspolitisch alles tun, um sich die besten Stücke zu sichern. Das heißt, Reformen zur Verbesserung der Infrastruktur und der deutschen Standortfaktoren insgesamt sind dringend zu ergreifen. Die aktuell praktizierte Nachlässigkeit muss zügig aufgegeben werden, denn der Prozess der Digitalisierung, der in den USA und Asien längst stattfindet, bedroht auch unsere Vorzeigebranchen in der Industrie.

Sich lediglich auf die Position zurückzuziehen, dass Deutschland immerhin wirtschaftlicher Europameister ist, befriedigt nicht. Man muss über den europäischen Tellerrand hinwegschauen. Mit Verlaub, unsere wirkliche Konkurrenz sitzt in Übersee. Das ist unsere starke Konkurrenz. Für Deutschland kann es nur das Ziel „Industrie-Weltmeisterschaft“ geben. Dann kann der deutsche Aktienmarkt sogar einen unabhängigen Aufwärtstrend erreichen.

Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Der Brexit bleibt ein theoretischer Elefant im Porzellanladen der Finanzmärkte

Ein Brexit würde die strukturellen Risse im politischen Gemeinschaftswerk der EU deutlich offenbaren. Nicht zuletzt verlöre die EU einen starken Protagonisten für Marktwirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit und auch an geostrategischer Bedeutung. Mittel- bis langfristig wären diese verschlechterten Rahmenbedingungen auch ein Damoklesschwert für europäische Aktien. Laut Durchschnitt vieler Umfragen - die vom Datenanbieter Bloomberg angeboten werden - werden aktuell 50 Prozent der Briten für den Verbleib in und 38 Prozent für den Austritt aus der EU stimmen. Grundsätzlich hat es die Politik der EU ein gutes Stück weit selbst in der Hand, den Befürworten eines „Bremain“ über eine strikte Terrorbekämpfung vor allem im Rahmen der anstehenden Fußball-Europameisterschaft und eine EU-gemeinschaftliche Lösung der Flüchtlingskrise Wasser auf ihre Mühlen zu leiten. Immerhin, die griechische Schuldendramatik ist mit einem üblichen europäischen Husarenstück, das zumindest einen Zeitgewinn verspricht - da die Frage des Schuldenschnitts auf 2018 vertagt wurde - zunächst befriedet.

Grafik der Woche: Umfragewahrscheinlichkeiten für den Verbleib Großbritanniens in der EU

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Geht der Kelch des Brexit an den Finanzmärkten vorbei, setzt sich bei Anlegern die Einschätzung einer homöopathischen Leitzinsentwicklung in den USA fort, bricht die aktuell noch durchaus vorhandene Aktien-Skepsis auf. Sollte die verbesserte Stimmung auch positiven Niederschlag in der Weltkonjunktur finden, gibt es zum Sommer sogar ein sogenanntes "upside risk", ein „Aufwärts-Risiko“.

Charttechnik DAX und Euro Stoxx 50 - Der Widerstand bei 10.250 DAX-Punkten ist markant

Charttechnisch gilt es im DAX, auf dem Weg nach oben die untere Begrenzung des Aufwärtstrendkanals bei 10.250 Punkten zu durchbrechen. Auf der Unterseite liegen erste Unterstützungen bei 10.128 und 10.080. Schließt der DAX deutlich unter der Unterstützung bei 9.753, dürften die nächsten Auffanglinien bei 9.498 und 9.332 angesteuert werden. Darunter bietet die noch nicht geschlossene Kurslücke zwischen 9.079 und 8.967 Punkten Halt.

Im Euro Stoxx 50 liegt der nächste Widerstand auf dem Weg nach oben am Anfang Mai durchbrochenen Aufwärtstrend bei derzeit 3.061, gefolgt von weiteren bei 3.106 und 3.137 Punkten. Werden auf der Unterseite hingegen die Unterstützungen zwischen 2.990 und 3.000 und schließlich 2.893 durchbrochen, müssen weitere Abgaben bis zunächst 2.860 und darunter bis rund 2.800 ins Kalkül gezogen werden. Darunter gibt eine noch nicht geschlossene Kurslücke zwischen 2.786 und 2.756 Punkten Halt.

Der Wochenausblick für die KW 22 - Wie viel Munition liefert die US-Konjunktur für eine Leitzinserhöhung im Juni?

Die OPEC wird auf ihrem bevorstehenden Treffen am 2. Juni 2016 wohl zu keiner Einigung in puncto Obergrenzen zur Rohöl-Förderung gelangen.

In China unterstreichen der erneut - wenn auch nur minimal - schwächere offizielle als auch der vom privaten Finanzdatenanbieter Caixin veröffentlichte Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe die auf Nachhaltigkeit setzende, weiterhin verhaltene Konjunktursituation.

In den USA signalisieren verbesserte Konsumentenausgaben im April sowie eine Aufhellung des vom Conference Board ermittelten Verbrauchervertrauens Stabilisierungstendenzen beim Konsum. Der ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe und den Dienstleistungssektor deutet ebenfalls auf eine Stimmungsverbesserung hin, während die harten Auftragseingänge in der Industrie diese jedoch noch nicht nachvollziehen. Der ebenfalls veröffentlichte Arbeitsmarktreport sowie der Konjunkturbericht der Fed werden vor der US-Notenbanksitzung am 15. Juni auf ihr Zinserhöhungspotenzial geprüft.

In der Eurozone suggeriert die Inflationsschätzung für Mai einen ungebrochenen Deflationsdruck und auch das von der EU-Kommission ermittelte Wirtschaftsvertrauen bleibt unbefriedigend. Entsprechend dürfte die EZB auf ihrer nächsten Sitzung die konjunkturellen Abwärtsrisiken benennen, ohne jedoch weitere geldpolitische Maßnahmen zu beschließen.

In Deutschland lassen verbesserte Einzelhandelsdaten auf einen weiterhin stabilen Konsum schließen.

Halvers Woche: Ereilt das politische Europa das gleiche Schicksal wie Strandburgen am Meer?

Europa steckt tief in der Krise, zunächst wirtschaftlich. Das seit dem Vertrag von Lissabon 2007 erzählte Märchen, wonach die EU die wachstumsstärkste Region der Welt werde, hat bislang kein Happy End gefunden. Die Eurozone stagniert vielmehr. „Hochkonjunktur“ gibt es nur bei Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Geradezu pathologisch ist die Einstellung vieler europäischer Politiker - auch in Deutschland - das Wettbewerbsprinzip ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung zu meiden wie Katzen das Wasser. Dagegen sind die Schwellenländer dabei, sich mit wirtschaftlichen Rosskuren am eigenen Schopf aus der Wachstumskrise zu ziehen. Auch der nach der US-Immobilienkrise hämische Blick von Brüssel Richtung Amerika ist längst als Bumerang zurückgekommen. Denn während in Villa-EU die Immobilien- und Staatschuldenkrise noch weggeputzt wird, wird in Villa-USA schon Aufschwung gefeiert.

Warum sollten sich eigentlich Menschen in Griechenland, Portugal, Spanien oder auch Frankreich für die europäische Idee erwärmen, wenn sie sie mit der Kälte von Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen und Rentenkürzungen verbinden?

Welchen Sinn macht eine Interessengemeinschaft wie die EU für ihre Bürger, die auf die epochalen Anforderungen Globalisierung und Digitalisierung nur mit lässiger Reformfeindlichkeit reagiert? Überall in Europa kennt man von Müttern und Vätern die Aussage „Du sollst es einmal besser haben als ich“. Aber die EU-Politik scheint diesem verständlichen Ansinnen immer mehr einen Riegel vorzuschieben. Würde man privat einem Verein angehören wollen, der viel Mitgliedsbeitrag kostet, aber für die eigenen Interessen wenig tut?

Die Griechenland-Rettung ist nur ein Zeitgewinn

Der Politik geht es nur darum, die Vereine EU und Eurozone irgendwie zusammenzuhalten. Dabei schreckt sie auch vor Ausschaltung des gesunden Menschenverstands nicht zurück. Und sie vernachlässigt schluderhaft die Stabilitätskriterien von Maastricht, deren strikte Einhaltung damals zwar knallharte Bedingung für das Eingehen der Währungsunion war, aber deren Rechtsbeugung heute alternativlos ist. Das Gleiche gilt für die EZB, die die Politik der Deutschen Bundesbank fortsetzen sollte, heute aber längst in der Rolle des fröhlichen Mundschenks für Schulden fröhnende Finanzminister ist. Zugleich bezahlt sie beim Schuldengelage jeden Deckel und macht damit ihrem Spitznamen alle Ehre: Einer Zahlt Bestimmt! Soweit die politisch schöne Verpackung von EU und Eurozone mit geldpolitisch bunter Schleife.

Aber auf den Inhalt kommt es an! Was ist es für ein finanz- und wirtschaftspolitischer Nonsens, Griechenland gegen die eigenen Interessen im gemeinsamen Währungsraum zu halten? Das ist überhaupt keine Kritik an den Griechen selbst. Aber dieses strukturschwache Land wird im eng geschnürten Euro-Korsett so wenig konjunkturellen Erfolg haben wie Deutschland beim Eurovision Song Contest. Im Euro kann das Land nicht nachhaltig wachsen. Dennoch will man einen Grexit auf Teufel komm raus verhindern. Denn dann würde Griechenland aufgrund seiner Währungsabwertung gegenüber Portugal, Italien und Spanien bei Südfrüchten und Tourismus konkurrenzlos. Das könnte die Lust auf weitere Austritte - so die politische Befürchtung - vergrößern und die Eurozone politisch weiter schwächen.

Es dominiert die Polit-Räson der unbedingten eurozonalen Zwangsgemeinschaft. Dazu scheut man keinen auch noch so stinkendfaulen Schuldenkompromiss, der zwar die kurzfristigen Schuldensymptome lindert, aber an den eigentlichen Ursachen vorbeigeht. Wenn ein EU-Politiker etwas anderes behauptet, sollte er seinen Nachnamen im Pass überprüfen. Er könnte „Pinocchio“ lauten.

Das Zusammenbleiben der EU entspricht daher einem alten Ehepaar, wo Liebe und Idealismus zwar verblüht sind, man aber aus Angst vor dem Verlust des Steuerprivilegs und der gemeinsamen Immobilie dennoch zusammenbleibt. Der Politik mag das eine gewisse Zeit Entspannung verschaffen. Doch dieses süße Gift der politischen Verdrängung wird seine langfristige fatale Wirkung dennoch nicht verfehlen.

Eurosklerose: Die EU ist Krisen gegenüber ohnmächtig

Denn die ehelichen Kinder begegnen der europäischen Idee mit immer mehr Misstrauen und Skepsis. Europa wird immer weniger zugetraut, wirtschaftliche und auch geopolitische Krisen gemeinschaftlich einzudämmen. So hat man für den Konflikt mit Russland keine Lösung parat, die auch darin bestehen sollte, sich von der Dominanz der Weltmacht Nr. 1 im eigenen geographischen und wirtschaftlichen Interesse zu emanzipieren.

U.a. in der Flüchtlingskrise macht die EU alles andere als eine Bella Figura. Jeder macht entweder, was er national will oder verweist heuchlerisch auf eine europäische Lösung, die aber nicht kommt. Wann ist man endlich bereit, gemeinsam gegen kriminelle Schlepperbanden vorzugehen? Wenn Europa keine gemeinsame vernünftige Migrationspolitik betreibt und seine Außengrenzen nicht selbst schützt, versagt es in einer existenziellen staatlichen Kerndisziplin. Auch in der größten Flüchtlings-Not kann man nicht auf einen „Dienstleister“ setzen, der die politischen Preise als Gegenleistung so hoch treibt, dass das humanistische Fundament des Gemeinschaftswerks EU einem politisch stinkenden Kuhhandel geopfert wird.

Vom französischen Blutsbruder, mit dem Deutschland in früheren Krisensituationen regelmäßig gut zusammenarbeiten konnte, ist derzeit weit und breit nichts zu sehen. Ähnlich wie bei Karl May scheint Winnetou in die ewigen Jagdgründe eingegangen zu sein. Sieht so etwa die europäische Lösung aus?

Und jetzt mal ehrlich: Welches weltpolitische Krisenlösungspotenzial will man einem Europa insgesamt noch beimessen, das bereits daran scheitert, seinen eigenen Vorgarten von national-egomanischem Wildwuchs zu befreien? So ein kakophonischer EU-Polit-Kindergarten ist geostrategisch keine Hilfe.

Ist es da verwunderlich, dass bei so viel Lösungsverweigerung die Volksparteien nicht nur in Österreich, sondern in allen Euro-Länder dramatisch an Zustimmung verlieren? Wer im Empfinden von vielen Wählern keine klaren Lösungen anstrebt bzw. reale Probleme wenig, wenn überhaupt thematisiert, sich aber stattdessen wie ein Turner von Reckstange zu Reckstange - d.h. von Wahltermin zu Wahltermin - schwingt, darf sich nicht wundern, wenn selbst aus großen Koalitionen kleine werden.

Geht Großbritannien, geht auch ein wichtiger Lotse von EU-Bord

In dieser Gemengelage gebrochener Stabilitätskriterien, dilettantischer Lösungen und Staatsversagen kommt dem Votum der Briten am 23. Juni über einen Verbleib in der EU hohe Brisanz zu. Mit diesem Votum fällen die großen Briten ein Qualitätsurteil über die EU. Sagen sie mehrheitlich „Leave“ ist das so, als würde ein Restaurant seinen Michelin-Stern verlieren.

Dann zu glauben, der Brexit würde ein singuläres Ereignis bleiben, halte ich für sehr optimistisch. Der EU-Kritizismus würde zu einem neuen politischen Zeitgeist, der Wasser auf die Mühlen entsprechender Parteien in den EU- und Euro-Staaten leitete. Dieser EU-Spaltpilz könnte selbst durch Glyphosat nicht beseitigt werden.

Mit dem Austritt Großbritanniens würde nicht zuletzt ein politischer Größenvorteil der EU aufgegeben. Großbritannien ist eben nicht Malta oder Zypern. Das Land ist eine bedeutende Militärmacht, hat mit einem ständigen Platz im Sicherheitsrat großen Einfluss bei der UN, ist ein Verteidiger der Wettbewerbsfähigkeit und Marktwirtschaft und hält in puncto Menschenrechten im Gegensatz zu vielen Verständnispolitikern zumindest nicht immer die „Schnauze“. Geopolitisch ist es zudem aufgrund seines früheren Status als Kolonialmacht vielfach krisenerprobt. Dagegen laufen auf dem Kontinent zu viele „Juniorpartner“ herum, die Angst vor Verantwortung haben. Übrigens, wenn das große Britannien aus der EU ausscheidet, ist das wohl kaum ein überzeugendes Argument, dem Verein EU beizutreten.

Europa braucht keine ängstlichen Verwalter, sondern mutige Visionäre

Es ist keine Majestätsbeleidigung an Europa, wenn die EU-Politik kritisiert wird. Im Gegenteil, nur durch Kritik können sich Dinge positiv entwickeln. Ich persönlich finde die europäische Gemeinschaft schon aufgrund meiner Herkunft aus dem Dreiländereck Deutschland, Holland und Belgien großartig. Ohnehin ist sie notwendig, um nicht von großen geostrategischen Playern wirtschaftlich, z.B. durch TTIP, überrannt zu werden.

Ohne Macht ist man machtlos. Die EU muss sich endlich führungsstark zu dramatisch überfälligen Reformen in Wirtschaft und Außenauftritt durchringen und damit endlich die Herausforderungen der politischen wie wirtschaftlichen Globalisierung offensiv annehmen. Mit der Krümmung der Banane oder der Frage, ob regionale Wurst- oder Käsespezialitäten schützenswert sind, sollen sich nationale Politiker beschäftigen. Die bessere Idee wird sich marktwirtschaftlich schon durchsetzen.

Das ist eine langjährige Herkules-Aufgabe, vielleicht sogar eine Kernsanierung der EU. Wir haben aber keine Wahl: Ohne diese Maßnahmen werden die EU und später die Eurozone allmählich zerbröseln wie Sandburgen am griechischen Strand. Am Ende wäre Europa nicht mehr der größte Wirtschaftsraum der Welt und ein geopolitisch respektierter Partner, sondern nur noch Industriemuseum und Operettenstaat. Und seine Finanzmärkte könnten dann auf das Niveau von Entwicklungsländern zurückfallen. Denn ein Finanzstandort kann letztlich nur so stabil sein wie es die politischen Rahmenbedingungen erlauben.

Ich will nicht, dass über Europa, sondern mit Europa gesprochen wird. Ich will nicht, dass das politische Europa das Schicksal ereilt "Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit."

EU-Politisch Hintern in der Hose zu haben, ist kein Luxus, sondern eine Selbstverständlichkeit!

2 Kommentare

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  • motörhead
    motörhead

    Visionäre, politisch Verantwortliche die agieren, die handeln, wären wirklich wünschenswert. Die wird man im politischen Establishment leider vergeblich suchen. Dafür bietet man den Bürgern Bestürzungsmimik, Betroffenheitsrhetorik und herunterhängende Mundwinkel. Zu wenig um die Herausforderungen zu meistern.

    10:41 Uhr, 26.05. 2016
  • Peter Zumdeick
    Peter Zumdeick

    Wie gewohnt ein phantastischer Artikel ... - und jetzt mal ganz ehrlich: lasst uns Europa endlich rückabwickeln ... dieser Schrotthaufen macht doch echt keinen Sinn mehr ...

    20:31 Uhr, 25.05. 2016