Kommentar
15:08 Uhr, 22.01.2014

Konjunkturell geht‘s wieder aufwärts, doch Wirtschaften noch im Krisenmodus

Nach fünf Jahren der Krise konnten die meisten Ökonomen das Krisengefühl bislang noch nicht abschütteln. Das liegt unter anderem daran, dass gedämpfte Konjunkturerwartungen sich zunehmend im Denken der Volkswirtschaftler festsetzen. Insbesondere haben sich die Wirtschaftswissenschaften als unfähig erwiesen, die Entwicklungen der letzten Jahre plausibel zu erklären und überzeugende Schlussfolgerungen für das künftige Wachstum und die weitere Entwicklung an den Finanzmärkten zu ziehen.

Auch wenn einem ein tieferes Verständnis der realen Komplexitäten wirtschaftlicher Systeme abgeht, so ist doch klar, dass die zugrunde liegenden Strukturen sich schließlich weiterentwickeln. Genau das scheint jetzt der Fall zu sein: Die Weltkonjunktur hat nunmehr einen Punkt erreicht, bei dem die Dynamik des Aufschwungs stärker ist als je zuvor seit Beginn der Krise. Während sich also zahlreiche wirtschaftswissenschaftliche Modelle noch um Erklärungsversuche bemühen, lässt die Realwirtschaft die Krise bereits hinter sich.

Das wirtschaftstheoretische Hickhack lässt sich kaum besser illustrieren als durch die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaft 2013 an drei Ökonomen, die völlig unterschiedliche Thesen vertreten: Fama und Hansen einerseits und Shiller andererseits. Nach Verleihung des Preises wies zumindest Shiller darauf hin, dass sich das Trio in seinen Theorien zur Funktionsweise der Finanzmärkte grundlegend unterscheidet: der stets effizient agierende Markt versus der irrationale Markt. Auch die Thesen zu den Modellen, mit denen die wirtschaftliche Realität abzubilden sei, sind diametral verschieden. Die unterschiedlichen Sichtweisen, für die diese drei Finanzökonomen stehen, wurden in den letzten Jahrzehnten sehr klar und umfassend dargelegt. Damit bildeten sie die Basis für „wissenschaftliche“ Erkenntnisse zu einer Reihe möglicher Theorien, die uns entweder die Marktrealitäten erklären können oder künftig eher ignoriert werden sollten. Als praktischer Leitfaden durch die komplexe volkswirtschaftliche Realität für Manager und Investoren taugt der kontroverse Forschungsstand in den Wirtschaftswissenschaften und ihrem Teilgebiet „Finanzmärkte“ jedenfalls nicht und muss daher durch kritische und weniger „ideologisch“ geprägte Analyse der wirtschaftlichen Tatsachen in der Praxis ergänzt werden.

Es ist doch recht bemerkenswert, wie sehr das Unvermögen der Wirtschafts- und Finanztheorie, den jüngsten Konjunkturzyklus und das Marktverhalten korrekt zu erfassen, uns alle überrascht hat. Die Prämissen, auf die sich die traditionelle Wirtschaftstheorie stützt, sowie die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit diese Theorien die Realität korrekt abbilden, sind bereits seit Langem zweifelhaft.

Die Annahme, dass die Marktakteure bestens informiert und mit völliger Voraussicht rational agieren (und nicht – wie alle anderen Menschen – intuitiv und emotional), sowie die Neutralität von Geld und Schulden werden zunehmend infrage gestellt. Auch die begrenzte Rolle, die der Faktor Ungewissheit in diesen Modellen spielt, und die Illusion, dass sie anhand vergangenheitsbezogener Beobachtungen korrekt erfasst werden kann, sind äußerst fragwürdig. Doch auch wenn diese Annahmen die Realität zutreffend widerspiegeln sollten, kann es eine effiziente Preisgestaltung an den Märkten und stabile Gleichgewichte nur dann geben, wenn die Marktteilnehmer homogen und die Märkte transparent sind und überdies kaum Barrieren für den Markteintritt bestehen. Ferner müssten die relevanten Informationen vollständig und zeitnah vorliegen und allen Marktteilnehmern gleichmäßig zur Verfügung stehen. Diese Bedingungen sind zumindest nicht immer erfüllt.

Da alle wissenschaftlichen Modelle zwangsläufig unvollkommene Vereinfachungen der Realität darstellen, wäre das noch hinnehmbar, solange die auf diesen Annahmen aufbauenden Modelle die in der Realwirtschaft und den Finanzmärkten beobachteten Dynamiken korrekt erfassen würden. Bereits in den 1950er Jahren wies Milton Friedman darauf hin, dass unvollkommene Annahmen bei der wirtschaftlichen Argumentation gerechtfertigt sind, solange sie zutreffende Voraussagen liefern[1]. Auch Fußball- oder Billardspieler sind möglicherweise nicht imstande, die Laufbahn des Balls bzw. der Kugel anhand von Bewegungsgleichungen vorauszuberechnen. Worauf es letztlich ankommt, ist die Präzision ihres Spiels, mit der sie gegebenenfalls gewinnen, ohne die Funktionsweise des zugrunde liegenden physikalischen Modells im Einzelnen zu verstehen.

Auf den Gebieten Wirtschaft und Finanz sind die Modelle meistenteils recht präzise. Ist das einmal nicht der Fall, dann liegen sie gleich weit daneben. Das geschah beispielsweise 2008, als sowohl das Verhalten der Märkte als auch das des Konjunkturzyklus weit von den Modellprognosen abwichen. Hinzu kam, dass ein erheblicher Teil der empirischen Daten bereits vor der Krise von 2008 vorlag, die Standardmodelle wie allgemeine dynamisch-stochastische Gleichgewichtsmodelle (DSGE) und die Effizienzmarkthypothese (EMH) den Konjunkturzyklus und das Verhalten der Finanzmärkte aber nur äußerst unvollkommen erfassen konnten.

Kurz: Die empirischen Beobachtungen der Wirtschaftsleistung und der Vermögenspreise weisen im Zeitverlauf alles andere als eine Normalverteilung um den Mittelwert auf, obwohl sich diese Variablen der Theorie nach im Zeitverlauf stationär verhalten und sich um ihren Mittel- bzw. Gleichgewichtswert normal verteilen sollten. Die multiplen Schocks bei der Standardabweichung, die 2008 im Hinblick auf Wirtschaftsleistung und Vermögenspreise eintraten, verschlimmerten die Situation nur noch.

Wie die Krise sich wirtschaftswissenschaftlich lösen lässt, bleibt daher völlig unklar. Insofern ist es an der Zeit, sich die Defizite der Theorien, die momentan zu diesem Zweck herangezogen werden, einzugestehen. Die Einsicht, dass die Zukunft ungewisser ist, als so manch einer glauben möchte, ist der erste wichtige Schritt hin zu tragfähigeren, konsequenteren Entscheidungen. Eine unvoreingenommene und konsequente Entscheidungsfindung ist langfristig für nahezu alle Wirtschaftsentscheidungen, die wir treffen, und mit Sicherheit für unsere Investitionsentscheidungen „überlebenswichtig“.

Nicht zuletzt sollte man auch Alternativen sondieren, um die Funktionsweise des zugrunde liegenden Systems und seiner wichtigsten Teilbereiche besser nachzuvollziehen und seine Entscheidungsfindung entsprechend anzupassen. Selbst ohne vollständiges und unumstrittenes Modell unseres Wirtschaftssystems deuten sowohl die qualitative als auch die regelbasierte Analyse auf eine Ausweitung und Stärkung des globalen Konjunkturzyklus hin. Die globale Wachstumsentwicklung schreitet voran, auch wenn wir immer noch nicht genau verstehen, warum. Insofern ist durchaus mit positiven Überraschungen zu rechnen – gerade wegen der eher trüben Erwartungen vieler Marktbeobachter!

Autor: Valentijn van Nieuwenhuijzen, Chefstratege ING Investment Management

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