K: Europa in der Reflexionsphase
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Externe Quelle: Deutsche Bank Research
Autor: Werner Becker
Europa in der Reflexionsphase
Wer geglaubt hat, dass sich die österreichische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2006 nach dem Budgetkompromiss des Dezembergipfels sogleich anderen wichtigen EU-Aufgaben zuwenden könnte, wurde enttäuscht. Das Europäische Parlament hat jüngst den unter britischer Präsidentschaft erzielten Budgetkompromiss mit der klaren Mehrheit von 80% abgelehnt, da dieser die traditionellen Politikbereiche bevorzugen und die Mittel für Wachstum, Beschäftigung, F&E, etc. unannehmbar stark kürzen würde. Zudem will das Parlament mehr Mitwirkungsrechte und Kontrollen im Budgetprozess.
Die Ablehnung des Parlaments bedeutet allerdings nicht das Ende der finanziellen Vorausschau 2007-2013 für das EU-Budget, sondern markiert den Startschuss für Verhandlungen mit dem Parlament. Ein Kompromiss mit dem Parlament - aufbauend auf dem Dezemberergebnis - dürfte in den nächsten Monaten möglich sein, wenn der Europäische Rat Entgegenkommen zeigt, bei den Ausgaben einige neue Akzepte akzeptiert (z.B. mehr Mittel für F&E) und dem Parlament mehr Mitwirkungsrechte einräumt. Für eine Ausweitung des im Dezember vereinbarten EU-Budgetrahmens, der mit 862 Mrd. Euro (1,045% der EU-Wirtschaftsleistung) weit hinter der Forderung des Parlaments in Höhe von 975 Mrd. Euro (1,18%) zurückbleibt, gibt es hingegen kaum Spielraum. Eine grundlegende Neuausrichtung des EU-Budgets ist erst im Rahmen der geplanten Überprüfung der Ausgaben und Einnahmen durch den Rat im Jahr 2008 bzw. 2009 zu erwarten.
Darüber hinaus ist die österreichische Ratspräsidentschaft mit schwierigen Aufgaben befasst, die von der Wachstumsförderung über die Grundsatzdebatte zu Europa bis zur Fortführung der Verfassungsdiskussion und des Erweiterungsprozesses reichen. Die Befassung mit diesen Themen muss zudem vor dem Hindergrund zunehmender Diskrepanz zwischen Europa und seinen Bürgern erfolgen. Das Eurobarometer vom Herbst 2005 zeigt, dass die Akzeptanz Europas auch nach dem negativen Ausgang der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden im Mai/Juni 2005 weiter abgenommen hat. So ist z.B. die Zustimmung der EU-Bürger zur Mitgliedschaft ihres Landes in der EU weiter - um 4 Prozentpunkte auf 50% - geschrumpft, wenngleich mit breiter Spanne von größerer Zustimmung um 3 Punkte (Malta) bis zum Einbruch um 8% (Belgien).
Ein wichtiger Grund für die verbreitete Europaskepsis der Bürger ist die schwache Wirtschaftslage. Positiv ist aber, dass sich die Wachstumsperspektiven in Europa Anfang 2006 aufgehellt haben. Für Euroland wird z.B. ein BIP-Zuwachs von 2% und für Deutschland von rund 1¾% erwartet. Allerdings sind schon erhebliche Wachstumsrisiken für 2007 absehbar, die nicht nur von der MWSt-Erhöhung in Deutschland, sondern auch z.B. von einer Verlangsamung der Weltkonjunktur ausgehen können.
Umso wichtiger ist es, dass die österreichische Ratspräsidentschaft dort Wachstumsimpulse setzt, wo Europa im Rahmen der neuen Lissabon-Agenda Handlungskompetenz hat. Ein wichtiger Schwerpunkt ist der Abbau von überflüssigen bürokratischen Regeln auf EU-Ebene, um die Kosten der Unternehmen zu entlasten. Die Kommission hat vorgeschlagen, 1400 Rechtsakte zu straffen oder ganz abzuschaffen. Beim Lissabonziel, die nationalen Ausgaben für F&E zügig auf 3% des BIP anzuheben, haben fast alle EU-Länder erheblichen Handlungsbedarf, um die Kluft zu den USA und zu Japan abzubauen und gegenüber dem aufstrebenden China zu bestehen. Wachstumschancen bietet insbesondere der Dienstleistungssektor, auf den fast 70% des BIP der EU entfallen. Der weiteren Liberalisierung des Binnenmarktes - insbesondere der Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie - wird daher zu Recht Priorität eingeräumt. Allerdings gilt es, den Wachstumsimpulsen der Dienstleistungsrichtlinie zum Durchbruch zu verhelfen.
Wichtige Bausteine zur Besserung der Europaakzeptanz sind Kommunikation und Information. Die einjährige Denkpause, die sich der Rat bis Juni 2006 verordnet hat, soll unter österreichischer Präsidentschaft nun endlich genutzt werden, um die notwendige Grundsatzdiskussion über Europa zu führen. Der Laeken-Gipfel von 2001 zur Zukunft Europas hat hier Wegweiserfunktion: Die EU müsse "stärker auf (die) konkreten Sorgen (der Bürger) eingehen und sollte sich nicht bis in alle Einzelheiten in Dinge einmischen...". Auch das Europäische Parlament will zusammen mit den nationalen Parlamenten einen aktiven Beitrag zur Strukturierung der Europadebatte leisten und die Diskussion auf fünf Themen fokussieren: Ziele, Grenzen und globale Rolle Europas, Zukunft des EU-Sozialmodells sowie Maßnahmen zur Stärkung von Freiheit und Sicherheit.
Die österreichische Ratspräsidentschaft tut gut daran, die laufende Phase der Reflexion nicht mit einer neuen Diskussion über ein Kerneuropa zu befrachten, wie dies derzeit z.B. von Frankreich und Belgien favorisiert wird. Dies könnte den europäischen Integrationsgedanken leicht weiter schwächen und eine (spätere) Ratifizierung des Verfassungsvertrages gänzlich unmöglich machen, z.B. weil sich Länder der Peripherie übergangen fühlen.
Österreich wird im Juni 2006 eine Zwischenbilanz der einjährigen Reflexionszeit und einen Fahrplan für das weitere offizielle Vorgehen in der Verfassungsfrage vorlegen. Kurzfristige Lösungen sind nicht zu erwarten. Der Verfassungsvertrag muss aber bald wieder auf die EU-Agenda gesetzt werden, weil die erweiterte EU leistungsfähige Entscheidungsstrukturen braucht, um in Zukunft handlungsfähig zu bleiben. Bemerkenswerterweise signalisiert die jüngste Umfrage von Eurobarometer hier eine größere Zustimmung, auch in Frankreich und den Niederlanden.
Der Verfassungsvertrag bietet einen guten "Blueprint", der sich von den schwerfälligen Entscheidungsregeln des geltenden Nizza-Vertrags abhebt. Er definiert z.B. die qualifizierte Mehrheit im Rat als Zustimmung von 55% der Länder (mindestens 15), die mindestens 65% der Bevölkerung repräsentieren müssen. Immerhin haben 14 EU-Staaten mit rd. 52% der EU-Bevölkerung den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert.
Für die weitere Behandlung des Vertrages stehen drei Optionen im Raum: (1) Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses mit dem Ziel, bei erneuten Referenden in Frankreich und den Niederlanden nach den Wahlen im Frühjahr 2007 Zustimmung zu erlangen; (2) Ratifizierung mit beigefügten Erklärungen, z.B. zum europäischen Sozialmodell, ähnlich dem dänischen Verfahren beim Maatrichtvertrag 1993; (3) Ausarbeitung eines neuen Verfassungsentwurfs mit dem Schwerpunkt der Verbesserung der Entscheidungsstrukturen, der dann allerdings erneut in allen EU-Ländern zu ratifizieren wäre. Alle drei Optionen bergen freilich erhebliche Probleme, so dass eine Lösung, in welcher Richtung auch immer, Zeit in Anspruch nehmen dürfte.
Ein Anliegen Österreichs im Erweiterungsprozess ist die möglichst rasche Heranführung der südosteuropäischen Länder an die EU. Der genaue Termin für den vereinbarten Beitritt Bulgariens und Rumäniens - 2007 oder 2008 - soll nach Vorlage des Kommissionsberichts im April 2006 bestimmt werden, wobei vieles für den späteren Zeitpunkt spricht. Die Beitrittsverhandlungen mit Kroatien wurden begonnen und Mazedonien hat jüngst Kandidatenstatus erlangt. Umfragen zeigen allerdings, dass künftige Erweiterungsschritte mit dem Ziel in Konflikt stehen, die Akzeptanz Europas zu erhöhen. Die EU muss für neue Mitglieder grundsätzlich offen sein. Sicher ist, dass die Erweiterungspolitik ein zunehmend kontroverses Thema auf der EU-Agenda werden wird.
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