Institut: Reallöhne in der EU sind deutlich unter Vorkrisenniveau
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BERLIN (Dow Jones) - Die Reallöhne lagen im vergangenen Jahr in der Europäischen Union deutlich unter dem Vorkrisenniveau. Laut einer Untersuchung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung ist die "Umverteilung zulasten der Löhne" noch nicht wieder wettgemacht worden und Löhne müssten stärker steigen, um den Konsum anzuregen. Für das laufende Jahr zeichneten sich in 26 von 27 EU-Staaten zwar Reallohnzuwächse ab, im Durchschnitt der EU rechneten die Experten mit 2,0 Prozent bei den realen Bruttolöhnen. Die Verluste der Vorjahre seien damit aber längst noch nicht ausgeglichen, so die WSI-Experten Malte Lübker und Thilo Janssen.
Laut dem neuen europäische Tarifbericht des Instituts, für den unter anderem die neuesten verfügbaren Daten der Europäischen Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung ausgewertet wurden, büßten die Beschäftigten in der EU im vergangenen Jahr noch einmal an Kaufkraft ein. Trotz stärkerer nominaler Lohnzuwächse bei sinkender Inflation gingen demnach die Reallöhne im EU-Durchschnitt um 0,6 Prozent zurück, nachdem der Verlust 2022 sogar 4,2 Prozent betragen hatte, so die Untersuchung.
In Deutschland sanken die Reallöhne 2023 demnach um 0,3 Prozent, nach einem Verlust von 4,4 Prozent im Vorjahr. Unter dem Teuerungsschock hätten auch die Tariflöhne gelitten, die Ende 2023 in wichtigen EU-Ländern preisbereinigt unter dem Niveau von 2015 lagen, wie das Institut erklärte. Das gilt auch in Deutschland, wo der Wert von 2015 noch um 0,8 Prozent unterschritten wurde.
Langsame Erholung der Kaufkraft
Für dieses Jahr gehen die Experten von einer EU-weiten "langsame Erholung" der Kaufkraft aus, die die Binnennachfrage stärken werde. Aus Sicht der Arbeitnehmer sei damit aber die Krise nicht überwunden. "Sie haben den Großteil der realen Einkommenseinbußen getragen, die mit dem Energiepreisschock infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine verbunden waren", sagten Lübker und Janssen.
Sie verwiesen auf dabei auch auf die Lohnquote in Europa. Zwischen 2021 und 2023 sank der Untersuchung zufolge der Anteil der Lohneinkommen am Volkseinkommen im EU-Durchschnitt von 55,4 Prozent auf 54,8 Prozent. In Deutschland fiel der Rückgang mit 0,9 Prozentpunkten von 58,0 auf 57,1 Prozent sogar noch etwas stärker aus. Als Grund für die Entwicklung in Deutschland nannten die Forscher, dass in Deutschland wie in vielen anderen EU-Ländern während der Teuerungswelle die Gewinnmargen von manchen Unternehmen angestiegen seien, was - anders als die Lohnentwicklung - zwischenzeitlich erheblich zum Preisauftrieb beigetragen habe.
"Eine Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen war die Folge", so die WSI-Forscher. Auch wenn die Lohnquote in diesem Jahr wieder auf das Ausgangsniveau steigen dürfte, sehen die Wissenschaftler bei der Lohnentwicklung "weiterhin Aufholbedarf, um zu einer gerechteren Lastenverteilung zwischen Arbeit und Kapital beizutragen". Schließlich hätten sich die Verbraucherpreise dauerhaft erhöht, sie stiegen mit dem Auslaufen der Inflationswelle nur nicht mehr so schnell.
Ein weiteres Lohnwachstum, das kurzfristig auch oberhalb des rechnerischen Verteilungsspielraums aus Inflation und Produktivitätswachstum liegen könne, sei gesamtwirtschaftlich wichtig, "um den privaten Konsum zu fördern und damit die Konjunktur zu stützen", schreiben Lübker und Janssen. Bei zunehmender konjunktureller Erholung und höherer Auslastung der Unternehmen werde auch das Produktivitätswachstum wieder stärker zulegen. Die EU-Kommission prognostiziert für das kommende Jahr 1,2 Prozent im EU-Mittel.
Kontakt zur Autorin: andrea.thomas@wsj.com
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