Kommentar
13:56 Uhr, 14.10.2016

Eines ist sicher in der Finanzwelt: Die Unsicherheit, oder?

Passend zum Beginn der dunklen Jahreszeit sieht man sie wieder galoppieren, die apokalyptischen Aktien-Reiter. Sicherlich gibt es viele Risiken, die für deutliche Aktienkonsolidierungen sprechen: Die US-Präsidentenwahl, der holprige Umbau der chinesischen Volkswirtschaft, die ohnehin verhaltene Weltkonjunktur, schwache Unternehmensgewinne, die Konsequenzen des Brexit, protektionistische Abschottungsmaßnahmen, eine mögliche neue Bankenkrise und schließlich auch die Gefahr, dass die Liquiditätshausse durch eine restriktivere Geldpolitik an Dynamik verliert, stellen durchaus ernstzunehmende Gefahren dar. Wie viel Unsicherheit droht den Anleihe- und Aktienmärkten?

Wie viel Sorgen muss man sich um China machen?

Chinas Außenhandel befindet sich in Moll-Stimmung: Zuletzt signalisierten die letzten Daten zum Ex- und Import, dass Chinas postuliertes Wachstum von mindestens 6,5 Prozent ein kommunistisches Märchen ohne Happy End ist. Und da Chinas Wachstum mit Wohl und Wehe der Weltwirtschaft gleichgesetzt wird, werden insbesondere die Aktienbörsen von exportorientierten Ländern wie Deutschland gedrückt.

Insbesondere die schwache internationale Nachfrage belastet Chinas Handel. Erschwerend kommen hausgemachte Handicaps dazu. Die chinesischen Exportunternehmen sehen sich steigender Konkurrenz ausgesetzt. Da die chinesischen Löhne mittlerweile deutlich angestiegen sind, verlagern internationale Konzern ihre Produktion immer mehr nach Südostasien und Indien sowie sogar nach Afrika aus. Die Diskrepanz zwischen der stabilen Stimmung in der chinesischen Exportindustrie und der tatsächlichen Entwicklung von Chinas Exporten zeigt durchaus eine gewisse Neigung Pekings, Dinge zu schönen.

Chinas Einkaufsmanagerindex im Verarbeitenden Gewerbe, Neuauftragskomponente Export und Chinas Exporte

Selbst der Immobilienboom machte sich negativ bemerkbar. In der Hoffnung auf weiter steigende Preise wurden massiv Finanzmittel aus der Produktion in den Häusermarkt verlagert. Der volkswirtschaftliche Rationalisierungsprozess und damit die Attraktivität von Fertigungen in China wurden insofern eingeschränkt. Ausgerechnet der Außenhandel jedoch sollte aber die Finanzmittel generieren, um den Umbau der Volkswirtschaft als Produktionsstandort der Welt hin zu einer technologisch konkurrenzfähigen Industrienation mit stabilem Konsum und Dienstleistungen zu schaffen.

China hat verstanden, diesen Umbauprozess mit fiskalpolitischen Maßnahmen zu beschleunigen. Mit vermehrten staatlichen Investitionen in die Infrastruktur will man der Schrumpfung im Verarbeitenden Gewerbe entgegenwirken.

Zu transformatorischen Reibungsverlusten wird es dennoch ohne Zweifel kommen. Neben einer Immobilienblase und dramatischen Überkapazitäten in der Produktion ist insbesondere die massive Überschuldung ein ernstzunehmender Schwachpunkt. Chinas Banken sind mit dramatischen Beständen an notleidenden Krediten belastet. US-Ratingagenturen sprechen von einem Kapitalbedarf von über einer Billion US-Dollar.

Diese wirtschaftlichen Anpassungsprobleme hat zwar jedes Land durchlaufen müssen, dass den Status Schwellenland gegen Industrieland eintauschte. Aber in China als einem weltwirtschaftlichen Supertanker wird eine neue Konjunktur-Doktrin deutlich mehr Anstrengungen erfordern.

An dieser Stelle kommt die Geldpolitik Chinas ins Spiel. Sie wird mit günstigen Zinsen, einer dramatischen Liquiditätsausweitung und dem umfangreichen Aufkauf schlechter Kreditqualitäten die Risiken glätten müssen. Die Handelspartner Chinas werden sich über so eine grundsätzlich instabile Politik nicht grämen. Denn Fed, Bank of Japan und EZB haben auch keine andere Geldpolitik betrieben. Jedem (Export-)Land ist das wirtschaftliche Hemd näher als der stabilitätspolitisch einwandfreie Rock.

Großbritannien auf dem Weg zum economic power house

Bis März will das Vereinigte Königreich seinen „EU-Scheidungsantrag“ stellen. Obwohl innenpolitisch umstritten, scheut die britische Regierung offenkundig auch vor dem Verzicht auf den privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt - „Hard Brexit“ - nicht zurück. Mit dieser tollkühnen Drohkulisse spekuliert London darauf, dass die EU in den Austrittsverhandlungen für britische Interessen offener ist. EU-Ratspräsident Donald Tusk hat sich in der Tat kürzlich konziliant gezeigt und den Briten diplomatisch überraschend deutlich angeboten, den Brexit jederzeit abzubrechen. Europa weiß sehr genau, dass es nach einem Brexit eine offene geostrategische und (wirtschafts-)politische Flanke hat. Aus einem Partner wird ein Konkurrent.

Denn zur volkswirtschaftlichen Heilung für die Zeit nach dem Brexit arbeitet Großbritannien bereits an seiner Wiedergeburt als Industrienation. Als puristische Finanznation will man nicht mehr betrachtet werden. Über Verbesserung der Standortbedingungen und durch Steuersenkungen sowie Lohn- und Währungsdumping will man sogar zu den etablierten europäischen Exportnationen in Konkurrenz treten. In diesem Zusammenhang wird in London aufmerksam registriert, dass von dem derzeit schwachen, aber wettbewerbsfähigen Pfund die im FTSE 100 gelisteten Unternehmen bereits export- und damit auch aktienseitig profitieren.

In puncto Bankenkrise sollte die Politik keine schlafenden Hunde wecken

Europäische Banken befinden sich in schwierigem Fahrwasser. Niedrigzinsen und Regulierung schaffen große Ertragsprobleme. Erschwerend betreibt Amerika unverhohlen eine Bankenpolitik pro Inland und contra Europa. Wie jüngst bei der Deutschen Bank werden mit langwierigen Prozessen und unverhältnismäßigen Strafzahlungen in den Köpfen der Anleger statt operativer Geschäftsentwicklungen Skandalthemen frisch gehalten. In diesem Szenario sind europäische Politiker aufgefordert, unkluge Äußerungen über das theoretische ob und wie staatlicher Stützungsaktionen zu unterlassen. Sie sollten wissen, dass bereits der Schmetterlingsflügelschlag von politischen Gerüchten zu bankwirtschaftlichen Vulkanausbrüchen führen kann. Worte zerstören, wo sie nicht hingehören. Das Beispiel der Lehman-Pleite 2008 mit ihren schweren weltweiten Kollateralschäden sollte noch in guter Erinnerung sein. Es ist jedoch zu hoffen, dass die Ratio Vorrang vor Wahlpopulismus hat. Jedem Liquiditätsengpass, der damals für Lehman das Ende bedeutet, wird die EZB konsequent entgegentreten.

Eine restriktive Geldpolitik der EZB ist so unwahrscheinlich wie unkrautfreie Streuobstwiesen

Gerüchten, wonach die EZB zukünftig eine restriktivere Geldpolitik betreiben könnte, fehlt mit Blick auf die labile konjunkturelle und politische Lage der Eurozone die Basis. Zum Beweis ihrer Unabhängigkeit bzw. Handlungsfähigkeit wäre jedoch eine taktische Schwerpunktverlagerung möglich: Bei einer begrenzten Drosselung ihrer Anleiheaufkäufe und damit nur verhalten steigenden Renditen würden dennoch steilere Zinsstrukturkurven geschaffen. Aus Rentabilitätsgründen - Geldaufnahme zu niedrigen Leitzinsen und Anlage in Staatspapieren zu höheren Renditen - würden Banken veranlasst, mehr Staatspapiere zu kaufen. Auf diese Weise wäre für eine anhaltend reibungslose Schuldenrefinanzierung der Euro-Länder gesorgt. Bezogen auf die Überschussreserven der Kreditinstitute bei der EZB besteht konjunkturell ohnehin keine Gefahr der monetären Unterversorgung. Theoretisch könnte die gesamte Wirtschaftsleistung der Eurozone noch ca. zehnmal kreditfinanziert werden.

Die Tapering-Gerüchte der EZB, also zukünftig weniger Anleihen aufzukaufen, kamen insbesondere vor dem Hintergrund auf, dass spätestens Ende 2017 nicht mehr genügend aufkaufbare Staatspapiere zur Verfügung stehen. Die EZB könnte aber ihr Regelwerk ändern und beschließen, dass sie nicht wie bislang nur 33 %, sondern auch mehr als die Hälfte des Volumens von einzelnen Staatspapieren aufkauft und dabei sogar Bonitätsverschlechterungen zulässt. Auch könnte sie vom Kapitalschlüssel abweichen, der ihr vorgibt, in welcher Quote sie Staatsanleihen einzelner Länder aufkauft sowie Ankäufe auch unterhalb des Einlagensatzes von derzeit minus 0,4 Prozent tätigen. Weitere geldpolitische Ersatzbefriedigungen sind vorstellbar. So könnte sie Aktien auf Basis von ETF’s kaufen. Schon heute kaufen die Notenbanken in Japan, der Schweiz und auch China Aktien zur Liquiditätsausweitung und zur finanzwirtschaftlichen Stimmungsaufhellung auf. Im Extremfall sind sogar Maßnahmen wie Helikoptergeld nicht auszuschließen.

Zum geldpolitischen Schwur kommt es dann, wenn die Inflation nachhaltig steigt. Grundsätzlich müsste dann die EZB gemäß ihrem Primärauftrag Inflation konsequent bekämpfen und ihre freizügige Politik einschränken. Doch dann riskiert sie einen markanten Anstieg der Renditen von Anleihen insbesondere in der Euro-Peripherie. Selbst ein Zinsschock bzw. ein Anleihe-Crash mit allen realwirtschaftlichen Folgeschäden wäre dann nicht ausgeschlossen. Im Zweifel wird die EZB, aber auch die anderen großen Notenbanken inflationäre Gnade vor stabilitätspolitischem Recht ergehen lassen.

Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Jahresend-Rallye bei deutschen Aktien?

In das Bild einer insgesamt verhaltenen Konjunktur passen zum Auftakt der US-Berichtsaison für das abgelaufene III. Quartal 2016 auch die enttäuschenden Gewinnzahlen von Alcoa. Insbesondere ein verhaltenerer Ausblick wegen schwächerer globaler Nachfrage im kurz vor der Ausgliederung stehenden Wachstumsgeschäft mit komplexen Leichtbau-Teilen für die Automobil- und Luftfahrtindustrie - das ab 1. November unter Arconic firmiert - sorgt für Verunsicherung.

Damit sind die konjunkturellen Gründe für eine Zinserhöhung der US-Notenbank weiterhin rar. Diese scheint allerdings für die Fed immer mehr zur Frage der Glaubwürdigkeit zu werden. Laut Protokoll der vergangenen Fed-Sitzung bezeichnet eine Mehrzahl der Fed-Mitglieder die vergangene Entscheidung weiter abzuwarten als „close call“. Und so setzt sich an den Finanzmärkten immer mehr die Ansicht durch, dass am 14. Dezember eine Zinserhöhung stattfindet. Hierfür preisen die Terminmärkte laut Fed Funds Futures aktuell eine Wahrscheinlichkeit von knapp 70 Prozent ein.

Noch ist allerdings nicht abzusehen, welche geopolitischen bzw. weltkonjunkturellen Fakten im Dezember einer Zinserhöhung der Fed im Wege stehen. Schon oft wurde eine fest eingepreiste Zinserhöhung wieder abgesagt. Kommt es zu einer Zinserhöhung, ist dies eher als Signal der Handlungsfähigkeit der Fed zu sehen.

Ohnehin hat die Fed kein Interesse daran, den US-Dollar über dynamische Zinserhöhungen zu sehr zu stärken. Auch Amerika hat längst die volkswirtschaftlichen Freuden des Exports entdeckt. Insgesamt sind große Währungsverwerfungen nicht zu erwarten, so dass die Aufwertung des US-Dollars bei etwa 1,10 zum Euro begrenzt bleiben dürfte.

Die Gefahren, dass Deutschland einerseits seinen marktwirtschaftlichen, reformwilligen und bonitätsstarken Partner Großbritannien verliert - aus der Europäischen Stabilitäts- droht die Schuldenunion zu werden - und dem deutschen Industriestandort zumindest langfristig britische Konkurrenz droht, spielt derzeit am deutschen Aktienmarkt noch keine entscheidende Rolle. Allerdings sind aufgrund der nur verhalten wachsenden Weltwirtschaft und Unternehmensgewinnen die fundamentalen Argumente für deutsche Aktien noch begrenzt. Dennoch, bei einer Wahl von Hillary Clinton als neuer US-Präsidentin stehen die Chancen auf eine Jahresend-Rallye gut. Denn dann bleibt Exportnation Deutschland die im Trump’schen Wahlkampf propagierte, protektionistische Abschottung Amerikas mit Einschränkung des freien Welthandels erspart.

Dieses politische Bild bestätigt auch der zuletzt gegenüber dem US-Dollar wieder aufwertende mexikanische Peso. Als Stimmungsbarometer entwickelt sich sein Außenwert spiegelbildlich zu den einbrechenden Wählerumfragen pro Trump, da die mexikanische Wirtschaft deutlich unter dem von Trump geplanten Protektionismus leiden würde.

Im Übrigen stellt der nachhaltige Ausfall des Zinsvermögens als attraktive Alternativanlageklasse ein epochales Argument für Aktien dar.

Charttechnik DAX - Es geht weiter seitwärts

Charttechnisch liegen im DAX auf dem Weg nach oben erste Widerstände bei 10.490 und 10.535 Punkten. Werden diese durchbrochen, rücken die nächsten Barrieren bei 10.679, 10.743 und knapp darüber bei 10.797 in den Vordergrund. Setzen sich jedoch die aktuellen Kursrücksetzer fort, trifft der Index bei 10.403 Punkten auf eine erste Unterstützung. Werden auch diese unterschritten, findet der DAX zunächst an der Marke bei 10.383 Punkten Halt. Darunter müssen Kursverluste bis zu 10.250 und 10.209 einkalkuliert werden.

Der Wochenausblick für die KW 42 - Die EZB macht heiße Tapering-Gerüchte kalt
In China signalisieren die BIP-Zahlen für das abgeschlossene III. Quartal zumindest offiziell eine konjunkturelle Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Realistisch betrachtet dürfte das Wachstum deutlich niedriger liegen.

In den USA deutet ein wieder schwächerer Einkaufsmanagerindex der Philadelphia Fed auf ein schwieriges Wirtschaftsumfeld hin. Das bestätigt auch eine im September nahezu stagnierende Industrieproduktion. Auch die gemäß Baubeginnen und -genehmigungen abflachende Erholung auf dem US-Immobilienmarkt liefert keine dynamischen Impulse. Entsprechend verhalten dürfte der Konjunkturbericht der Fed (Beige Book) ausfallen. Auch die US-Inflationsdaten sind weiterhin zinserhöhungsunkritisch.

In der Eurozone liegt die Inflation weit entfernt von dem Zielwert der EZB. Das dürfte die EZB auf ihrer geldpolitischen Sitzung zum Anlass nehmen, jegliche Gerüchte über eine Einschränkung ihrer Anleiheaufkäufe zu zerstreuen. Gleichzeitig ist eine Verstärkung ihrer Liquiditätsoffensive noch nicht zu erwarten.

Die Gretchenfrage an die Geldpolitik: Wie hältst Du es mit der Inflation?

Es ist üblich geworden, Inflation als harmlos einzustufen. Bei den Verbrauchern haben die günstigen Tank- und Heizpreise psychologisch ganze Arbeit geleistet. Offiziell beträgt die deutsche Preissteigerung aktuell 0,7 Prozent. Auch wenn sie schon tiefer war, ist sie vergleichsweise unspektakulär. Normale Preissteigerungen wie früher um drei, vier oder mehr Prozent haben wir offenkundig nicht mehr auf dem Radarschirm. Wo soll sie denn auch herkommen?

Und dennoch sollte man gegen den Preisharmlosigkeits-Strich bürsten. Sind Sie wirklich der Meinung, dass die offizielle Inflation Ihrer tatsächlichen Preiswirklichkeit entspricht? Ich behaupte, dass die inoffizielle, oder besser gesagt die tatsächliche Preissteigerung deutlich höher als die veröffentlichte ist. Das liegt nicht am Statistischen Bundesamt. In Wiesbaden arbeitet man qualitativ hochwertig. Allerdings habe ich mit der Eignung des Warenkorbs, auf dem die Inflationsmessung derzeit basiert, meine liebe Not. Man mag einwenden, dass es einen allgemeingültigen Warenkorb nicht gibt. Stimmt, nicht jeder schlemmt Kaviar, süffelt Champagner oder düst mit einem Ferrari über die Autobahn.

Die offizielle Inflation ist Pinocchio-haft
Aber ich halte es für kein Hexenwerk, einen Warenkorb zusammenzusetzen, der einem typischen menschlichen Lebensalltag zumindest nahe kommt. Denn wir alle haben Grundbedürfnisse, müssen essen und trinken, Miete und Strom zahlen und Versicherungsprämien entrichten. Um eine repräsentative Inflation zu berechnen, muss sich der zugrundeliegende Inflationswarenkorb also grundsätzlich an diesen leider recht teuer gewordenen Gütern orientieren. Und da diese naturgemäß auch regelmäßiger zu kaufen sind als immer preisgünstiger werdende braune Ware (z.B. Fernseher), weiße Ware (Kühlschränke & Co.) oder schwarze Ware (Notebooks, etc.), ist genau diese Kaufhäufigkeit im Inflationswarenkorb deutlich stärker zu berücksichtigen als bislang üblich. Darauf gegründet bin ich überzeugt, dass eine wirklichkeitsnahe Inflation oberhalb von drei Prozent liegt.

Verständlicherweise haben keine Firma und kein Politiker irgendein Interesse an der offiziellen Ausweisung dieser tatsächlichen Preissteigerung. Dann würden Gewerkschaften und öffentlich Bedienstete höhere Lohnsteigerungen zum Inflationsausgleich einfordern, was die Ertragssituation von Unternehmen bzw. die öffentlichen Kassen strapazierte.

Und auch die Finanzmärkte haben sich an die Behaglichkeit geschönter Inflationsdaten ähnlich gewöhnt wie Frostbeulen an einen wärmenden Kamin an kalten Herbst- und Wintertagen. Kein Wunder, denn so können sich die Notenbanken mit Blick auf das offiziell nicht erreichte Inflationsniveaus lässig zurücklehnen und behaupten, sie haben doch gar keinen restriktiven Handlungsbedarf. Ein Schelm, wer Böses bei diesem geldpolitischen Alibi denkt.

Aber was wäre, wenn die Happy Hour offiziell niedriger Inflationsraten endet?
Zum geldpolitischen Schwur käme es allerdings, wenn selbst die offizielle Preissteigerung nachhaltig steigt. Tatsächlich glaubt der Internationale Währungsfonds (IWF), dass sich die Preisentwicklung zukünftig mindestens normalisiert: 2015 lagen die Verbraucherpreise in Amerika, in der Eurozone, in Deutschland und in China bei 0,1; 0,0; 0,4 und 1,4 Prozent. 2017 sollen sie auf 2,3; 1,1; 1,5 und 2,3 Prozent steigen.

Aber wo könnten die steigenden Preise herkommen? Sie kommen leider nicht vom Wirtschaftswachstum, dem „angenehmsten“ Inflationsgrund. Wenn auch wenig für markant steigende Rohstoffpreise spricht, werden die preisdrückenden Basiseffekte dennoch auslaufen. Ebenso könnte ein schwacher Euro für Inflationsdruck sorgen. Leider kommen Preisanstiege immer mehr von öffentlicher Seite, da Vater Staat in der Eurozone grundsätzlich arm wie eine Kirchenmaus ist. Wenn er also in seiner Geldnot bei den Preisen seiner Dienstleistungen und Sozialversicherungen zuschlägt, bekommen wir alle blaue Inflations-Flecken.

Nicht zuletzt sollten protektionistische Maßnahmen nicht unterschätzt werden. Den Gipfel der Globalisierungseuphorie haben wir vermutlich hinter uns. Das Jahr 2017 könnte dem Freihandel ernsthaft zusetzen. Wenn die Weltkonjunktur weniger rund läuft, ist sich jeder selbst der Nächste. Aus Gemeinnutz wird dann schnell Eigennutz. Ohnehin sind viele mittlerweile der Meinung, dass die gepriesenen Segnungen der Globalisierung nicht bei ihnen ankommen. Sorgen dann entsprechende Wahlergebnisse für Importzölle in Land oder Region A, führt das schnell als Retourkutsche auch zu Zöllen im Land B. Noch ist der Handelskrieg nur lauwarm. Doch sollte er heiß werden, würde auch der Preisauftrieb eiskalt steigen, da der globale Wettbewerbsdruck nachgibt.

Was ist heute geldpolitisch noch normal?
Dann könnten sich die Notenbanken zunächst zwar stolz auf die Brust klopfen, weil sie das Deflationsgespenst verjagt haben. Doch die Medaille hat eine Kehrseite: Nehmen die Notenbanken ihren Job ernst - die EZB hat zumindest auf dem Papier die Verpflichtung von der Deutschen Bundesbank übernommen, Inflation vorbeugend zu bekämpfen - müssten sie normalerweise zins- und liquiditätsseitige Schubumkehr betreiben.

Aber was ist heutzutage noch normal und vor allem wie viel geldpolitische Normalität kann man den Finanzmärkten noch zumuten? Ehrlich gesagt, nicht viel. Abseits von politisch motivierten Jubelkommentaren ist Europas Konjunktur keine blühende Landschaft. Auf eine stagnierende, wenn auch inflationierende Wirtschaft hätten daher notenbankseitige Restriktionen eine ähnliche spaßbremsende Wirkung wie trockengelegte Tümpel auf Froschpopulationen.

Heutzutage werden frische Staatsschulden dringend gebraucht, um den Euro-Volkswirtschaften künstlich auf die Wachstumssprünge zu helfen. Es geht ja auch darum, staatliche Einrichtungen wie Schulen oder Krankenhäuser und Sozialleistungen aufrechtzuerhalten. Niemand will soziale Unruhen riskieren. Und damit sich die Staaten dabei nicht das finanzielle Genick brechen, sorgt das eurozonale Wohlfahrtsamt - nennen wir es EZB - dafür, dass diese zu Schnäppchenpreisen finanziert werden. Wir haben den point of no return erreicht: Nur durch niedrigste Leitzinsen und massiv kreditzinsendrückende Anleiheaufkäufe ist die überbordende Staats(neu)verschuldung überhaupt noch zu stemmen.

Wehe, wenn das Zinsschock-Monster aus dem Finanz-Käfig entkommt
Bei tatsächlich offiziell höherer Inflation und einer reflexartigen Gegenreaktion der Notenbanken ist die schöne heile Schuldenwelt schnell beendet. Würde Mario Draghi als der bisherige Schutzpatron von Staatspapieren zukünftig Markt- statt Planwirtschaft zulassen, die dafür sorgt, dass die höheren Preissteigerungsraten zum Ausgleich auf die Anleiherenditen geschlagen werden, ist für die Mehrzahl der Finanzminister Verschuldung nicht mehr bezahlbar. Zur gepflegten Kenntnisnahme: Italien zahlt heute im Durchschnitt für seine Staatsschulden weniger als 0,4 Prozent Zinsen. Vor der Euro-Familienrettung durch seine geldpolitische Heiligkeit Mario waren es über sechs Prozent. Noch Fragen?

Überhaupt, wenn Anleiherenditen wegen Inflationsdruck steigen, wird doch kein Investor unbekümmert zusehen, wie seine massiven Buchgewinne aus langer früherer Niedrigzinszeit fallen wie Blätter im Herbst. Und da sich an Anleihemärkten Ansammlungen von Lemmingen befinden, werden selbstverständlich alle Anleiheinvestoren die Notbremse ziehen und präventiv Kasse machen, um ihre Kursgewinne zu realisieren, bevor sie den Bach runter gehen.

Zum Schluss reden wir von einem Zinsschock, einem weltweiten Anleihe-Crash mit allen realwirtschaftlichen Folgeschäden. Die Empfindlichkeit unserer heutigen Schulden- und Anleihewelt entspricht der Haut eines weißhäutigen Nordschweden, der sich ohne Sonnenschutz viele Stunden am Strand einer Südseeinsel aufhält.


Bei Inflation werden die Notenbanken die rosarote Brille aufsetzen
So leid mir diese Aussage aus Stabilitätssicht auch tut: Die Notenbanken können ihre eigentliche Aufgabe der Inflationsbekämpfung heutzutage nicht mehr wirklich wahrnehmen. Statt Karies und Parodontose zu behandeln, gibt es viel Schokolade und ein Verbot von Zahnbürsten.

Nicht jedem Politiker wird das wirklich Schmerzen bereiten. Wenn die Inflationsraten oberhalb von Anleiherenditen liegen, hilft doch die Preissteigerung mit, Staatsverschuldung in Höhe der Differenz zu verringern. Bezogen auf die aktuell tatsächliche deutsche Inflation von drei Prozent und einer durchschnittlichen Rendite von deutschen Staatspapieren von aktuell minus 0,1 Prozent (Basis Umlaufrendite) ist Deutschland in gut 20 Jahren über die Inflationierung ohne reale Verschuldung. Leider heißt dies aber auch, dass Zinsanleger nach rund 20 Jahren real ohne Vermögen sind.

Im inflationären Extremfall wird die Geldpolitik zunächst Blendgranaten werfen. Sie wird von einem vorübergehenden Inflationsphänomen sprechen. Vor geldpolitischer Einschränkung müsse man erst die weitere Entwicklung abwarten. Und dieses Abwarten kann dann zum Warten auf Godot ausarten. Und wenn alle Stricke reißen, kann man immer noch die Warenkörbe der Inflationsindices aufhübschen. Vielleicht nimmt man dann ja Dinge wie Schwarzweißfernseher in den Warenkorb auf. Dann haben wir das Thema Inflation per Definition beendet.

Hinter vorgehaltener Hand ist den (Geld-)Politikern jedes Mittel zur Aufrechterhaltung der Illusion einer intakten Schulden- und Anleihewelt recht.

Öffentlich behaupten die Notenbanken zwar weiter mit heiligem Stabilitätsschwur, bei Inflation nicht tatenlos zuzuschauen, sondern einzugreifen. Wer es glaubt, wird selig!

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