Fundamentale Nachricht
11:47 Uhr, 21.04.2021

„Ein instabiles Gleichgewicht“

Der Zinsanstieg könnte trotz des in diesem Jahr erwarteten Wachstums der Weltwirtschaft eine Phase der Instabilität an den Finanzmärkten einläuten, meint Didier Saint-Georges, Mitglied des Strategic Investment Committee von Carmignac.

Anfang März haben wir bereits die potenziellen Folgen des Zinsanstiegs für die Aktienmärkte angesprochen. Ein Monat später ist das Risiko eines weiteren Anstiegs der Anleihesätze und damit einer erneuten volatilen Phase der Aktienmärkte weiterhin gegeben. Ebenso besteht nach wie vor eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die US-Wirtschaft überhitzt.

In den USA ist die Wiederöffnung der Wirtschaft dank des schnellen Impftempos bereits in vollem Gange, während gleichzeitig die im Konjunkturpaket der Biden-Regierung vorgesehene Verteilung von Schecks an die Privathaushalte begonnen hat. Der Gesamtbetrag der verschiedenen Konjunkturpakete von mehreren Billionen Dollar ist beispiellos. Diese expansive Haushaltspolitik dürfte auch nächstes Jahr Bestand haben, da es politisch angebracht ist, die Konjunktur noch mindestens bis zu den US-Zwischenwahlen Ende 2022 weiter zu stützen.

Die aktuelle wirtschaftliche Dynamik der USA dürfte sich fortsetzen. Die Wirtschaftstätigkeit ist nach unseren Schätzungen in den zuletzt heruntergefahrenen Sektoren (Restaurants, Hotels, Luftfahrt und Freizeit) bereits um 50 Prozent gestiegen. Außerdem deuten die regelmäßigen Arbeitsmarktzahlen auf einen anhaltenden Aufschwung in den meisten US-Bundesstaaten hin. Folglich erscheint in den USA nun ein BIP-Wachstum von mehr als 7 Prozent im Jahr 2021 plausibel.

Allerdings ist Vorsicht geboten, denn das Zusammenspiel zwischen einer Verbrauchernachfrage, die endlich befriedigt werden kann, und anscheinend grenzenlosen haushaltspolitischen Hilfsprogrammen stützt das Szenario einer möglichen Überhitzung, d. h. eines Wachstums, das von Inflationsdruck begleitet wird. Die US-Notenbank steckt somit in einem Dilemma, denn sie muss sich entscheiden, ob sie ein Überhitzen oder einen Rückgang der Märkte verhindert.

Indem sie die geldpolitische Straffung auf die lange Bank schiebt, nährt die Fed die Furcht vor einem auf längere Sicht einsetzenden Inflationsanstieg und trägt so zum Anstieg der langfristigen Zinsen bei. Dies ist nicht nur ein Risiko für die Kurse von Finanzanlagen, sondern für mehrere Sektoren und in erster Linie für den Immobiliensektor. Andererseits würde eine Straffung der Geldpolitik der Fed auf jeden Fall die kurzfristigen Marktzinsen steigen lassen, sodass gleichzeitig ein ähnliches Risiko für die Märkte oder sogar für die Konjunktur an sich entstünde. Da die Fed somit in einer Zwickmühle steckt, sind wir in unseren Anleiheportfolios zu einer sehr aktiven Steuerung des Zinsrisikos übergegangen.

Die Verzögerungen, die es in Europa bei den Impfkampagnen gegeben hat, kommen den Kontinent nun teuer zu stehen, weil erneute Beschränkungen der Wirtschaftstätigkeit verhängt werden, die noch ein paar Monate alternativlos sein werden. Das Wachstum dürfte in Europa in diesem Jahr trotz des äußerst günstigen Basiseffekts kaum über 4 Prozent hinauskommen. Dieser Rückstand des Konjunkturzyklus, der unter anderem auf der Bescheidenheit der Konjunkturpakete Europas im Vergleich zu den USA beruht, hat immerhin den Vorteil, dass weniger Aufwärtsdruck auf die Zinsen besteht.

Doch die Finanzmärkte und die Wirtschaft hängen weltweit zusammen. Daher sollte man zurzeit die Wahrscheinlichkeit nicht unterschätzen, dass Europa aufholt – vor allem wenn das Impftempo endlich zunimmt. Vor diesem Hintergrund sind wir zuletzt zu einer vorsichtigeren Haltung auf den europäischen Zinsmärkten übergegangen.

Vorerst wiegt der Enthusiasmus wegen der Konjunkturerholung in den Köpfen der Anleger schwerer als die Risiken aufgrund einer Überhitzung, einer dauerhaft steigenden Inflation und eines übermäßigen Zinsanstiegs, die vor allem aus europäischer Sicht in der Tat etwas utopisch klingen. Doch das Gleichgewicht der Finanzmärkte ist instabil.

Als Risikomanager können wir die Möglichkeit nicht außer Betracht lassen, dass die Impulse, die die US-Wirtschaft erhalten hat, auf den Finanzmärkten für einen Wechsel der seit zehn Jahren geltenden Paradigmen sorgen. Wie schon Ende der 1960er-Jahre leiten die Vereinigten Staaten nun eine radikale wirtschaftspolitische Wende ein. Wie schon damals, als auch die „Sonderstellung“ der USA nicht mehr ausreichte, um das ungeheure Defizit zu rechtfertigen, könnte letztendlich der Dollarkurs unter Druck geraten, wovon die Schwellenländer profitieren würden.

Die Zahlen, die in den nächsten Monaten sowohl von der Wirtschaft als auch der Politik präsentiert werden, könnten entscheidend dafür sein, ob sich eine neue Tendenz an den Märkten herauskristallisiert. Bis dahin bleibt unsere Anlageverwaltung in diesem Umfeld in den kommenden Monaten auf eine Portfoliozusammensetzung mit Schwerpunkt auf unseren langfristigen Überzeugungen – von denen einige, wie beispielsweise die Energiewende, vor dem Hintergrund der US-Haushaltspolitik noch stärker geworden sind – und eine sehr aufmerksame Beobachtung der Marktungleichgewichte ausgerichtet.

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