Der Sommer der Erkenntnis: Rettung geht vor Stabilität
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Es riecht wieder nach Verschuldungskrise. In Griechenland bleiben deutliche Spar- und Reformfortschritte aus - die Schuldentragfähigkeit ist mit einem Verschuldungsgrad von 170 Prozent der Wirtschaftsleistung schlichtweg nicht vorhanden - so dass sich die Hinweise auf einen zweiten Schuldenschnitt bis Jahresende verdichten. Vorsorglich scheint man bereits die nächste Tranche der Rettungsgelder nur auf Raten auszuzahlen. In Portugal besteht weiterhin die Gefahr von Neuwahlen. Zudem schürt der wackelige portugiesische Kurs in der Finanzpolitik Befürchtungen vor einem zweiten Rettungspaket.
Insbesondere Italien gerät wieder in den Fokus besorgter Anleger. Die Herabstufung der Kreditwürdigkeit Italiens um eine Stufe auf BBB durch die Rating-Agentur S&P - die Wachstumsaussichten und die Kreditvergabe an Unternehmen sind schwach - verdeutlicht die tief liegenden Strukturprobleme, die im Endeffekt die Schuldenlast von mittlerweile 130 Prozent der Wirtschaftsleistung weiter steigen lassen. Zwar steigt der Druck auf die Regierung, geeignete Spar- und Reformmaßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft zu ergreifen. Allerdings steigt damit auch die Gefahr von Neuwahlen, da die instabile Regierungskoalition in diesen Fragen tief gespalten ist.
Auch die letzten Stabilitätsburgen werden geschliffen
Vor diesem Hintergrund dürfte sich im Sommer die Erkenntnis durchsetzten, dass die Euro-Rettungsmaßnahmen im Herbst wieder Fahrt aufnehmen. Insbesondere nach der deutschen Bundestagswahl im September dürfte die neue Bundesregierung - viele erwarten eine Große Koalition - genug Machtpotenzial besitzen, um auch unpopuläre Entscheidungen für Euroland durchzusetzen. Mit europolitischer Zwangsharmonisierung - u.a. einer weiteren Abschwächung der Sparanforderungen und sogar einem griechischen Schuldenschnitt unter Beteiligung öffentlicher Investoren - treibt man die euroländische Konjunktur- und Finanzmarktstabilisierung oder kürzer die Schuldenunion voran. Schließlich gilt es, die großen Euro-Staaten Spanien und Italien abzuschirmen, auch wenn damit die grundsätzlichen Strukturprobleme der prekären Euro-Staaten nicht gelöst werden.
Bedingungsloser Feuerschutz kommt dabei von der EZB. Sie wird eine erneute Zuspitzung der politischen Euro-Krise gezielt verhindern und dafür auch unkonventionelle Maßnahmen einsetzen. So wurden zuletzt Stimmen aus der EZB laut, dass eine Liquiditätsspritze in Form erneuter Dreijahreskredite nicht auszuschließen ist.
Das Niedrigzinsumfeld zur Beseitigung jeglicher Refinanzierungsprobleme in Italien & Co. muss unbedingt aufrecht erhalten werden. Da angesichts trüber Wachstumsperspektiven - der IWF hat seine Wachstumsprognose 2013 für die Eurozone von -0,3 auf -0,6 Prozent weiter revidiert - insbesondere in der Euro-Südzone kein Weg an einem staatlich finanzierten Konjunkturwachstum vorbei führt, darf der Anteil des Schuldendienstes an den staatlichen Gesamtausgaben nicht weiter steigen, um den positiven Ausgabeeffekt der Verschuldung nicht über steigende Zinszahlungen zu schmälern.
"Re-Tapering" bei der US-Notenbank
Die Bedenken der Finanzinvestoren vor der Abschwächung des Anleiheaufkaufprogramms der US-Notenbank werden zwar weiter eine Rolle spielen. Allerdings wird die Erkenntnis an den Finanzmärkten reifen, die Fed demnächst mehr an ihren milden Taten und weniger an ihren geldpolitisch renitenten Worten zu messen. Fed-Chef Bernanke äußerte sich in punkto Anleiheaufkaufprogramm zuletzt ohnehin wieder offensiver. Damit sorgte er vor dem Hintergrund der Kakophonie der Meinungen innerhalb der Fed für Klarheit. Er gab deutlich zu verstehen, dass die sehr expansive Geldpolitik für absehbare Zeit das sei, was die US-Wirtschaft brauche.
Entspannungstendenzen zeigen sich bereits am US-Staatsanleihemarkt. Die Renditen 5-jähriger US-Staatstitel haben ihre rasante Aufwärtsbewegung nicht weiter fortgesetzt und bilden sich bereits wieder leicht zurück. Entsprechend reagiert auch der US-Aktienmarkt (S&P 500) auf die freundlichen Liquiditätsaussichten mit erneuten Kursgewinnen.
Ohnehin wird bei der Begutachtung der tatsächlichen realwirtschaftlichen Situation in den USA deutlich, dass mehrere der von der US-Notenbank verfolgten Wirtschaftsindikatoren weit von den angepeilten Zielwerten entfernt sind, die eine restriktive Geldpolitik nahe legen.
So liegt die US-Arbeitslosenquote mit aktuell 7,6 Prozent noch deutlich über den von der Fed angepeilten 6,5 Prozent. Zwar zeigt sich ein gewisser Aufwärtstrend in Form eines Stellenaufbaus oberhalb des geldpolitischen Zielwerts von durchschnittlich 200 Tausend Stellen. Aber dieses Arbeitsmarktdatum ist eine sehr volatile Größe, die zudem nicht die Qualität neuer Arbeitsplätze beleuchtet. Vielfach handelt es sich nur um prekäre Arbeitsverhältnisse.
Die US-Inflationsrate zeigt sich mit zuletzt 1,4 Prozent zum Vorjahr deutlich rückläufig und signalisiert nicht die Notwendigkeit einer geldpolitischen Einschränkung, zumal auch das Wirtschaftswachstum in den USA noch weit entfernt ist von dem angepeilten Quartalswachstum von 3 Prozent. Überhaupt, der IWF hat kürzlich die Wachstumsprojektionen der USA für 2013 von 1,9 auf 1,7 und 2014 von 3 auf 2,7 Prozent gekürzt. Das „Taper-Off“ der US-Notenbank hat insofern an Schrecken verloren.
Grafik der Woche: Was die US-Notenbank bewegt
US-Berichtsaison mit solidem Start
Unterdessen hat der weltgrößte Aluminiumhersteller Alcoa die US-Berichtsaison mit besseren Zahlen als erwartet eröffnet. Durch eine breite Produktivitätssteigerung und eine starke Entwicklung in der Sparte Fertigung konnten sinkende Aluminiumpreise größtenteils abgefangen werden. Operativ konnte das Ergebnis um 60 Prozent zum Vorjahr gesteigert werden. Positiv fielen die Erwartungen für das zweite Halbjahr, insbesondere für die Bereiche Raumfahrt und Transport, aus.
Grundsätzlich zeigt sich Corporate America robust: Die US-Unternehmensgewinne - gemessen an den MSCI US-Aktienindices - entwickeln sich stabil. Insbesondere Technologie-, Pharma- und Konsumwerte setzen ihren positiven Gewinntrend fort. Lediglich die Finanzindustrie hält sich zurück. Hier schlägt sich die Sorge über zunehmende Regulierungen und erhöhte Eigenkapitalvorschriften nieder. Immerhin jedoch liefert die Stabilisierung am US-Immobilienmarkt und die damit verbundene Belebung des Hypothekengeschäfts eine wichtige Stütze. Enttäuschungspotenzial über weltweit gestutzte Wachstumsraten ist zwar grundsätzlich vorhanden. Aber mit staatlicher Schuldenfinanzierungen und einer ultralockeren Geldpolitik wird zukünftiges Wirtschaftswachstum wieder angeregt.
Und was passiert in der nächsten Woche?
Auf Unternehmensebene nimmt die US-Berichtsaison für das abgelaufene II. Quartal 2013 volle Fahrt auf. So dürften die Quartalsergebnisse der Wall Street-Größen Citigroup, Goldman Sachs, Bank of America und Morgan Stanley von der weiteren Erholung am US-Immobilienmarkt profitiert haben. Auch eine Vielzahl von IT-Unternehmen legen ihre Bilanzzahlen vor. Intel wird weiterhin unter dem schrumpfenden Geschäft mit Notebooks und Desktop-Rechnern zu leiden haben, während IBM vom - wenn auch schwächeren - Wachstum der Schwellenländer profitiert haben sollte. Die Zahlen von Yahoo dürften zeigen, dass das Unternehmen im wichtigen Bereich der Display-Werbung weiterhin zu kämpfen hat. Ähnliches gilt auch für Konkurrent Google. Microsoft leidet unter dem schwächelnden Geschäft mit der Office-Bürosoftware im Zuge der allgemeinen Flaute auf dem PC-Markt. Zudem stehen die Zahlen des Konsumgüterherstellers Coca-Cola auf dem Programm. Insbesondere die Nachfrage nach Softdrinks in Lateinamerika dürfte stark geblieben sein.
Auf Makroebene stehen in den USA die Daten vom Immobiliensektor auf dem Plan. Insbesondere die Baubeginne und -genehmigungen dürften zeigen, dass sich die Erholung hier trotz der zuletzt aufkommenden „Tapering“-Ängste im Trend weiter fortsetzen konnte. Der Einkaufsmanagerindex der Philadelphia Fed als Indikator für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung im Verarbeitenden Gewerbe der USA weist unterdessen auf eine lediglich langsame Konjunkturerholung hin, was die Zahlen zur Industrieproduktion im Juni unterstreichen dürften. Zudem suggerieren solide Einzelhandelsumsätze einen zuletzt stabilen Konsum. Der Konjunkturbericht der US-Notenbank dürfte von den Finanzmärkten besonders kritisch auf mögliche Hinweise einer Abschwächung der Anleiheaufkäufe abgeklopft werden.
In Deutschland stehen insbesondere die ZEW Konjunkturerwartungen für Deutschland im Vordergrund, die eine leicht positive Einschätzung der Konjunktur widerspiegeln sollten.
Aus charttechnischer Sicht liegt die erste Unterstützung im DAX bei 7730 Punkten. Knapp darunter verläuft die nächste Haltelinie an der 200-Tage-Linie bei derzeit 7715 Punkten. Darunter treten die nächsten Unterstützungen bei 7676, 7600 und darunter in der Zone zwischen 7450 und 7400 Punkten.
Auf der Oberseite gilt es im DAX, den Widerstandsbereich in der Kurslücke zwischen 8085 und 8160 Punkten zu knacken. Wird dieser überwunden, warten bei 8300 und derzeit 8438 Punkten weitere Hürden. Darüber tritt das Jahreshoch bei 8557 Punkten in den Vordergrund.
Finanzmarkt-Sommer 2013 - Ein Déjà-vu von 2011?
Wie viele andere bin ich dann auch mal weg, weg in den Sommerurlaub. „Summertime and the living is easy“ vom US-Komponisten George Gershwin kommt mir da sofort in den Sinn. Herrlich, einfach die Seele baumeln lassen. Und da Politiker auch für ein paar Wochen auf den Berg oder die Insel flüchten, sollte während der Sommerurlaubszeit eigentlich auch der Vorhang für das (geld-)politische Theater fallen.
2011 - Der Krisen-Sommer
Eigentlich! Mittlerweile sind aber die Sommerurlaubswochen an den Finanzmärkten nicht mehr lässig wie in der guten alten Zeit. So war 2011 statt entspannter Sommerklänge lautes, politisch unharmonisches Rumtata zu hören. Damals wurde die Krise in der Eurozone mit unsanften Reaktionen an den Euro-Staatsanleihemärkten geboren. Als Krisenbeschleuniger wirkte damals die euroländische Polit-Elite, die wie das verängstigte Kaninchen auf die Schlange starrte. Der Sommer 2011 war für viele Anleger heiß: Ihre Aktienpositionen erwischte es kalt.
Sommer 2012 - Der „Mario Draghi-Wonne-Sommer“
Der Sommer 2012 war das direkte Gegenteil zu 2011, zwar auch nicht ruhig, aber schöner Eustress. Mit seinem Versprechen am 26. Juli 2012, angeschlagene Euro-Länder mit zur Not unbegrenzten Aufkäufen ihrer Staatsanleihen zu retten, kaufte EZB-Chef Draghi den euro-renitenten Spekulanten den Schneid ab. Das was die Politik trotz allem Gipfeltourismus nicht schaffte - Friede an den Euro-Finanzmärkten - schaffte er allein mit der Kraft seiner Worte. Eigentlich hätte man ihm dafür den Friedensnobelpreis verleihen müssen. Von den Fesseln der Verschuldungskrise befreit, genossen die Anleger Sommer, Sonne, Eis und steigende Aktienkurse.
Und was macht der Sommer 2013?
Hält man die Anlegernase in den Wind, riecht es in diesem Sommer zunächst nach einem Déjà-vu des Krisen-Sommers 2011. Einige Regierungen in Euroland sind so stabil wie Waldmeister-Wackelpudding, Griechenland droht ein weiterer Schuldenschnitt, der dieses Mal auch das Urlaubsgeld des deutschen Steuerzahlers kosten wird, in punkto Bonität sind Italiens Staatsanleihen nur noch zwei Stufen vom Schrottstatus entfernt und in Frankreich, ja, in Frankreich ruft man Vive la Trance économique.
Außerdem zeigt China, der größte Garant für weltwirtschaftliches Wachstum im letzten Jahrzehnt - und damit auch eine wesentliche Sorgenpause für die deutsche Exportindustrie - eindeutige Spuren von wirtschaftlicher Ladehemmung.
Aber das i-Tüpfelchen auf einem vermeintlich verregneten Finanzmarkt-Sommer 2013 ist eine US-Notenbank, die Schluss mit geldpolitisch lustig zu machen scheint.
Für einen ungemütlichen Sommerurlaub sind damit die nötigen Zutaten beisammen. Sollte ich also vorbeugend Valium mit in den Urlaub nehmen oder das Smartphone direkt bei Ankunft am Urlaubsort im Meer ertränken, einen Kabelbrand im Fernsehgerät im Ferienappartement auslösen, damit es technisch unmöglich ist, negative Nachrichten sehen zu können, beim Flanieren auf den Straßen Scheuklappen aufziehen und Ohropax in meine Ohren stopfen, damit ich die unangenehmen Überschriften von Zeitungen erst gar nicht sehen oder im Radio hören kann? Eigentlich sollte ich mich vorsichtshalber auch mit den lieben Daheimgebliebenen verkrachen, damit ich ein Alibi habe, sie nicht aus dem Urlaub anrufen zu müssen. Sie könnten in einem unbedachten Moment auf die Idee kommen, mir Neuigkeiten von der Verschuldungskrise mitzuteilen. Am besten ich mache es wie die drei Affen: Nichts sehen, nichts hören und sagen tu ich - um keine schlafenden Krisen-Hunde zu wecken - auch nichts. Ja, ich bin dann im wahrsten Sinne des Wortes einfach mal weg.
Sommer 2013 - Einfach nur ruhig
Aber wenn ich noch einmal über alles nachdenke, fällt es mir dann doch schwer, zu glauben, dass Notenbanker von Lebensrettern zu Totengräbern mutieren. Gerade die unlängst vom Internationalen Währungsfonds gestutzten Wachstumsraten für alle Welt zeigen doch deutlich, dass die Konjunktur noch lange nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Nachdem man die Weltwirtschaft wie ein aus dem Nest gefallenes Küken seit 2008 aufgepäppelt hat, will man es jetzt - obwohl es noch schwach ist - sehenden Auges dem ausgehungerten Kater in der freien Finanz-Wildbahn überlassen?
Immerhin muss man sich um die Geldpolitik der EZB keine Sorgen machen: Weniger Liquidität und steigende Zinsen und Mario Draghi? Zwei Welten prallen aufeinander.
Eine fortgesetzt üppige Liquiditätsausstattung ist alternativlos, um es mit den Worten unserer Kanzlerin zu sagen. Selbst Ben Bernanke hat zuletzt geldpolitisch wieder Gesundbetung betrieben: „Eine sehr expansive Geldpolitik ist für absehbare Zeit das, was die US-Wirtschaft braucht." Amen!
Ich glaube sogar, dass die freizügige US-amerikanische Geldpolitik nicht nur in Japan oder in Euroland, sondern immer stärker auch in China zu einem Exportschlager wird. China lernt - der konjunkturellen Not gehorchend - bereits fleißig die neue Sprache, die sich „Fed“ nennt.
Die anstehende Bundestagswahl als Urlaubsversicherung
Übrigens, im September haben wir Bundestagswahl. Hätten Sie als regierender Politiker - oder regierende Politikerin - ein Interesse an Wähler beunruhigenden Entwicklungen an der Euro-Schuldenfront?
Die Politik schenkt uns also einen Zeitgewinn. Es scheint ein ruhiger Finanzmarkt-Sommer zu werden. Und den nutze ich für Urlaub. Summertime 2013 and the living is easy. Kraft tanken, denn pünktlich zum Herbstbeginn wissen wir, wer uns regieren wird. Nicht wenige erwarten eine Große Koalition. Dann lassen sich in Euroland auch ganz große Dinge bewegen. Und die hinterlassen bekanntlich Schleifspuren, auch an den Kapitalmärkten.
Demnächst, nach dem Urlaub, mehr aus diesem unserem Finanzmarkt-Theater.
Volkswirtschaftliche Prognosen auf einen Blick
Kapitalmarkt auf einen Blick
Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse der Baader Bank AG
Rechtliche Hinweise/Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenskonflikten der Baader Bank AG:
http://www.baaderbank.de/disclaimer-und-umgang-mit-interessenskonflikten/
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