Chancen und Risiken für die Jahresend-Rallye
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Aus politischer Perspektive sind die Erwartungen für Aktien gedämpft. Die US-Präsidentschaftswahl am 8. November wirft bereits ihre Schatten voraus. In Europa kommt erschwerend das italienische Verfassungsreferendum am 4. Dezember hinzu. Bei seiner Ablehnung könnte es dann 2017 zu insgesamt fünf Nationalwahlen in Euro-Ländern mit politisch ungewissem Ausgang kommen. Fundamental hilfreich sind sicherlich auch nicht die gedämpften Weltwirtschaftsprognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF), die aus den Gefahren des Brexit und dem globalen Wirtschaftsprotektionismus abgeleitet werden und vor allem Exportnationen wie Deutschland beeinträchtigten. Und zu allem Verdruss kommen jetzt auch noch Gerüchte auf, die EZB könne eine Drosselung ihrer Anleihekäufe ähnlich dem Tapering in den USA durchführen. Ist die Jahresend-Rallye damit illusorisch geworden?
Politische Risiken als Damoklesschwert für die europäischen Finanzmärkte
Mit einem der Euro-Missstimmung geschuldeten „Nein“ zur Verwaltungsreform und damit zum Herzstück der bislang überschaubaren italienischen Reformbemühungen steigt die Gefahr einer Regierungskrise um Ministerpräsident Renzi, die auf Neuwahlen im nächsten Jahr hindeutet. Im Extremfall stünden dann 2017 fünf Wahlen in den Niederlanden, Frankreich, Deutschland, Spanien und eben Italien an, die zu Euro-feindlichem Wählerprotest und anschließend zu verstärkter politischer Eurosklerose mit entsprechendem Schadenspotenzial für die Euro-Finanzmärkte führen könnten.
Überhaupt sorgen die unabschätzbaren (wirtschafts-)politischen Folgen des Brexit für Verunsicherung. Großbritannien will bis März 2017 seinen „EU-Scheidungsantrag“ stellen. Dabei scheut das Land mittlerweile sogar vor einem „Hard Brexit“ nicht mehr zurück, wonach auf den privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt verzichtet wird. Dass dies ein Frontalangriff auf die Stabilität der britischen Wirtschaft ist, der zu massiver Migration britischer Unternehmen in den Euro-Raum beiträgt, ist allen politischen Beteiligten klar. Doch liefert die britische Regierung die volkswirtschaftliche Verteidigungsstrategie gleich mit. Sie lautet Reindustrialisierung und Verbesserung der Standortbedingungen durch Steuersenkungen - was Irland kann, kann Großbritannien auch - sowie Lohn- und Währungsdumping. So will man den etablierten Industrienationen im Export massiv entgegentreten. Deutschland hat hier am meisten zu verlieren.
Ist dieser „tollkühne“ wirtschaftspolitische Plan wirklich ernst gemeint oder dient er eher als Drohgebärde Richtung Brüssel, den Briten bei den Austrittsverhandlungen großzügig entgegenzukommen? Sicherlich spekuliert London darauf, dass die EU - auch nach den anstehenden Wahlen - keine geschlossene politische Phalanx mehr gegenüber Großbritannien bildet und damit für britische Interessen „offener“ ist. Als früher führende Kolonialmacht und mit der Erfahrung als langjähriger EU-Spaltpilz hat Großbritannien ein sehr sensitives Gespür für die in vielen Ländern vorhandene Skepsis gegenüber EU bzw. Eurozone. London wird versuchen, diese offenen Wunden für sich zu nutzen.
Grundsätzlich sollte man jedoch die britische Regierung auch in puncto Umbau der Volkswirtschaft nicht unterschätzen. Der Status als rein finanzwirtschaftliche Volkswirtschaft ist vielen schon lange ein Dorn im Auge. Zukünftig will man auch auf einem industriellen, stärker außenwirtschaftlichen Bein stehen. In diesem Zusammenhang wird aufmerksam registriert, dass von dem derzeit schwachen wettbewerbsfähigen Pfund die im FTSE 100 gelisteten Unternehmen bereits export- und damit auch aktienseitig profitieren.
Auch du, mein Sohn (Brutus) Mario?
Vor dem Hintergrund dieser (wirtschafts-)politischen Risiken konnten die Notenbanken und auch die EZB die Wogen an den Finanzmärkten bislang immer noch glätten. Doch jetzt sorgen Gerüchte, die EZB könnte ihre geldpolitische Vollversorgung bald überdenken für Anlegerverunsicherung. Konkret geht es um die theoretische Drosselung von Anleiheaufkäufe um monatlich 10 Mrd. Euro. Sicherlich ist sich die EZB darüber im Klaren, dass ihre dramatische Liquiditätsversorgung und Niedrigzinspolitik zum Zweck der Konjunkturstimulierung unangenehme Nebenwirkungen hat. Die in der Eurozone mehrheitlich auf Zinsvermögen basierende Altersvorsorge ist gefährdet. Und auch den Banken ist ihr Basisertragsmodell „Zinsgeschäft“, das früher stabile Gewinnpuffer gegen Risiken aller Art lieferte, weggebrochen. Betroffen ist von den Niedrigzinsen auch das Anlagegeschäft von Versicherungen und allgemein die Pensionsrückstellungen von Unternehmen, die im Vergleich zu früher normalen Zinsverhältnissen deutlich weniger abdiskontiert werden und damit höher bestückt werden müssen.
Mit Blick auf die abseits von Basiseffekten verhaltenen Wachstumsaussichten und politisch labilen Verfassungen in einigen Euro-Ländern wird die EZB aber keine wirklich restriktive Geldpolitik betreiben können. Die erhebliche Reduktion von Anleihekäufen würde unweigerlich zu Renditeerhöhungen von Staatsanleihen führen, die Zinserträgen ohne Zweifel zugutekämen. Diese Zinsverteuerungen würden allerdings - mit Blick auf den hohen Schuldenstand der meisten Euro-Länder verbunden mit der als notwendig empfundenen staatlich finanzierten Stabilisierung der sozialen Lage - Länder wie Italien nahe an den Rand der Zahlungsunfähigkeit führen. Die Staatsschuldenkrise 2.0 wäre geboren.
Allerdings könnte die EZB eine leichte Schwerpunktverlagerung ihrer bisherigen Geldpolitik vornehmen. So könnte sie „Light Tapering“ betreiben, also die zusätzliche Liquiditätsversorgung nur im begrenzten Umfang zurückführen. Die Anleiherenditen würden nicht massiv, sondern nur verhalten steigen. Dennoch würde sich für Banken im Zuge einer steileren Zinsstrukturkurve Fristentransformation - Geldaufnahme zu weiter auf unbestimmte Zeit ultraniedrigen Zinskonditionen bei der EZB und Anlage zu dann höheren Renditen bei Staatspapieren - wieder mehr lohnen. Denn seit dem Rettungsversprechen von Mario Draghi im Juli 2012, zur Stabilisierung der Eurozone unbegrenzt Staatspapiere aufzukaufen, was dann ab Januar 2015 auch tatsächlich umgesetzt wurde, hat sich die Zinsstrukturkurve dramatisch verflacht und so maßgeblich zur schwachen Zinsertragslage der Finanzindustrie beigetragen.
Anstatt der EZB würden dann die Banken verstärkt Staatspapiere kaufen. Unter dem Strich bliebe die Refinanzierung neuer Staatsschulden ohne Absatzprobleme gewahrt. Ein deutlicher Anstieg der Renditen von Staatsanleihen als Vorbote einer erneuten Finanzkrise wäre insofern nicht zu befürchten. Mit der Ertragsstabilisierung bei Banken und einer weiteren reibungslosen Schuldenrefinanzierung hätte die EZB gleich zwei Fliegen mit einer Klatsche geschlagen.
Aus realwirtschaftlicher Sicht besteht grundsätzlich keine Gefahr einer monetären Unterversorgung, im Gegenteil. Bezogen auf die Überschussreserven, die die Kreditinstitute bei der EZB unterhalten multipliziert mit dem Geldschöpfungsmultiplikator, der sich aus dem Mindestreservesatz von derzeit einem Prozent ergibt, könnte die gesamte Wirtschaftsleistung der Eurozone theoretisch noch ca. zehnmal kreditfinanziert werden.
GRAFIK DER WOCHE
Potenzielles Kreditvergabevolumen Eurozone (Überschussreserven Geschäftsbanken bei der EZB multipliziert mit Geldschöpfungsmultiplikator) und Bruttoinlandsprodukt Eurozone
Im Übrigen wird die EZB ein „Glaubensbekenntnis“ aussprechen: Im Falle von Tapering wird sie unmissverständlich klar machen, dass ihr Rettungsversprechen auch zukünftig gilt. Und dieses Vertrauen wird der EZB auch tatsächlich entgegengebracht. Denn der auf die Gerüchte über Tapering erfolgende Anstieg der Renditen 10-jähriger Staatsanleihen fiel verhalten aus. Renditeerhöhungen wie im Frühjahr 2015, als Gerüchte über ein frühzeitiges, ein „Early Tapering“ der EZB die Runde machten, sind also nicht zu erwarten.
Weitere geldpolitische Spielarten sind ohnehin denkbar. Die EZB könnte Staatsneuverschuldung bereits an der Quelle finanzieren. Der an dieser Stelle gerne gegebene Hinweis, dies sei rechtlich nicht möglich, überzeugt nicht wirklich. Denn das gleichzeitig inflationäre und massive Abrücken der EZB von der Stabilitätspolitik einer Deutschen Bundesbank - das war einmal eine Top-Bedingung für die Einführung der Gemeinschaftswährung Euro - hat bis heute keine juristischen Konsequenzen gehabt.
Ebenso könnte die EZB wie die Schweizer und japanische Notenbank Aktien aufkaufen, um damit Kapitalmarktfinanzierungen der börsennotierten Unternehmen zu erleichtern.
Ängste vor einem Ende der ultralockeren Geldpolitik sind unangebracht. Die EZB weiß selbstverständlich, dass die Rückbesinnung auf eine Geldpolitik mit normal hohen Zinsen und normaler Liquiditätsausstattung zu schweren Verwerfungen an den Finanzmärkten führen würde, die über sprunghaft ansteigende Risikoaversion eine bereits geschwächte Realwirtschaft in die Rezession treiben würde.
Aktuelle Marktlage und Anlegerstimmung - Keine Impulse von der US-Berichtsaison
Fundamentale Aktienargumente bleiben zunächst Mangelwahre. Mit dem Start der US-Berichtsaison für das zurückliegende III. Quartal 2016 in der nächsten Woche dürfte sich der verhaltene Gewinntrend von Corporate America zum fünften Quartal in Folge fortsetzen. Ein positives Gewinnwachstum in der Finanz- und Baubranche sowie bei Versorgern wird dabei von deutlichen Gewinnrückgängen im Energie-, Automobil-, Transport- und Technologiesektor - den Schwergewichten im S&P 500 Index - überkompensiert. Angesichts von bereits im Vorfeld gesenkten Gewinnerwartungen dürften allerdings „positive“, wenn auch wenig aussagekräftige Überraschungen die Regel sein. Deutlich stärker im Anlegerfokus werden die Ausblicke der Unternehmen für das kommende Jahr stehen. Insbesondere Alcoa könnte als konjunktureller Frühindikator aufschlussreich sein.
In den kommenden Wochen steht politisch die US-Präsidentenwahl am 8. November im Mittelpunkt. Die Anleger ziehen eine US-Präsidentin Clinton aufgrund der von ihr zu erwartenden Kontinuität eindeutig einem US-Präsidenten Trump und dessen skurrilen Wahlkampfthesen vor. In der Tat wäre die von Trump propagierte protektionistische Abschottung der USA als Welt-Konsumnation eine Zäsur für die globale Wirtschaft. Exportnationen in den Schwellenländern und natürlich auch Deutschland würde das realwirtschaftlich und finanzwirtschaftlich deutlich zu spüren bekommen.
Wird Trump gewählt, ist die Chance auf eine Jahresend-Rallye vertan. Bis mindestens zu seiner Amtseinführung im Januar 2017 stünden die Aktienmärkte unter Schockstarre. Umgekehrtes gilt für die eher wahrscheinliche Wahl von Clinton.
Sicherlich bleibt die Zinserhöhungsdebatte in den USA ein Handicap für Aktien. Mit Blick auf die konjunkturellen Aussichten bleibt die Zinsangst aber sehr begrenzt. Der IWF zeigt sich mit gesenkten Wachstumsprojektionen für die US-Wirtschaft (1,6 nach 2,2 in diesem und 2,2 nach 2,5 Prozent im nächsten Jahr) bemerkenswert kritisch. Darüber darf zunächst auch nicht der ISM Index für das Verarbeitende Gewerbe hinwegtäuschen, der im September mit 51,5 nach 49,4 in den Expansion anzeigenden Bereich zurückgekehrt ist. Auch für die robusten Erholungserscheinungen im Dienstleistungssektor mit 57,1 nach 51,4 fehlt die positive Trendbestätigung.
Sollte die Fed am 14. Dezember 2016 dennoch eine Zinserhöhung durchführen, tut sie das vor allem aus Gründen der Glaubwürdigkeit. Sie will die Lufthoheit über den Stammtischen der Finanzmärkte zurückgewinnen. Allerdings dürfte sie dann jedoch mit Blick auf die Weltkonjunktur und den Risiken eines Brexit deutlich machen, dass es für „Fortsetzung folgt“ keine zwingenden Gründe gibt. Die Jahresend-Rallye wird es freuen.
Charttechnik DAX - Auf Richtungssuche
Charttechnisch wartet im DAX im Falle einer fortgesetzten Erholung ein erster Widerstand bei 10.679 Punkten. Wird dieser überwunden, treten die nächsten Barrieren bei 10.743 und knapp darüber bei 10.797 in den Vordergrund. Fällt der Index stattdessen in eine Korrektur zurück, liegt die erste Haltelinie zunächst bei 10.535 Punkten. Darunter liegen weitere Unterstützungen bei 10.490 und 10.420. Werden auch diese durchbrochen, sind weitere Kursrückgänge bis zu 10.383 und 10.250 Punkten einzukalkulieren.
Der Wochenausblick für die KW 41 - Die Augen auf das Fed-Sitzungsprotokoll
In China unterstreichen wieder etwas schwächere Zahlen zu Im- und Exporten im September, dass die Konjunkturstabilisierung noch nicht abgeschlossen ist.
In den USA deutet der von der US-Notenbank veröffentlichten Labor Market Conditions Index darauf hin, dass die Bedingungen am Arbeitsmarkt nicht so robust sind wie gemeinhin behauptet wird. Der US-Konsum präsentiert sich laut Einzelhandelsumsätzen und dem von der University of Michigan veröffentlichten Verbrauchervertrauen zumindest stabil, aber ohne bedeutende Impulse. Grundsätzlich werden Anleger das Protokoll der vergangenen Fed-Sitzung auf Details in puncto einer möglichen Zinserhöhung untersuchen.
In der Eurozone schreitet die Stabilisierung des Investorenvertrauens laut dem Finanzdatenanbieter Sentix voran. Dasselbe gilt auch für Deutschland, wo die ZEW Konjunkturerwartungen einen schwachen Aufwärtstrend etablieren dürften.
HALVERS WOCHE
Wer hat noch Angst vor der Opec?
Auf ihrem letzten Treffen im Rahmen des Internationalen Energieforums in Algier hat die Opec etwas getan, was sie früher immer gerne und oft, aber schon länger nicht mehr gemacht hat: Sie hat eine Produktionsdrosselung beschlossen. Und tatsächlich bewegte sich der Ölpreis zuletzt wieder über der psychologisch wichtigen Marke von 50 US-Dollar pro Barrel. Ist das die Trendwende beim Ölpreis nach oben?
Nein, eine Schwalbe macht noch lange keinen Sommer. Angesichts einer täglichen Fördermenge von über 33 Millionen Barrel pro Tag entsprechen 800 Tsd. Barrel Förderkürzung dem Tropfen auf den heißen Stein. Das ist reine Förder-Kosmetik. Es ist kein Akt der Stärke, sondern ein Akt der nackten Verzweiflung. Doch ohne diese kleine Förderkürzung hätte sich das Ölkartell als vollends handlungsunfähig gezeigt. Irgendwie wollte man in Algier krampfhaft suggerieren, die Opec verfüge noch wie früher über die Macht, Ölpreise hoch zu setzen.
Doch mit der Preisfestsetzungsmacht ist es wie mit der Jugend: Sie kommt nicht mehr zurück. Das Problem der Opec einer weltweiten Ölüberversorgung und damit verbunden nachhaltig niedrigen Ölpreisen ist chronisch unlösbar. Dafür sprechen zwei gewichtige Gründe.
Die Opec-Nachkommen haben kein Auskommen mehr mit ihrem Öl-Einkommen
Erstens befinden sich die Ölländer in einem Gefangenendilemma. Zwar könnten alle versuchen, durch gemeinsame Förderkürzungen höhere Gewinne aus höheren Ölpreisen zu erzielen. Aber wenn ein „Pharisäer“ dabei ist, der egoistisch Sabotage im Sinne einer unbeirrt weiter hohen Eigenförderung betreibt, werden die anderen zu Verlierern. Schon früher war Ölförderdisziplin aus logistischen Gründen nicht überwachbar. Noch nie fuhren Expertenteams weltweit die unzähligen Ölfelder und Bohrplattformen ab und maßen, wie viel Öl aus Erde oder Meer gepumpt wird. Dieser Kontroll-Tourismus ist technisch viel zu aufwendig. Immerhin, in den 70er Jahren legten die Ölförderländer noch einen hohen Grad an ideologischer Disziplin an den Tag. Heute ist aus dem früheren Wahlspruch der drei Musketiere „Einer für Alle, Alle für Einen“ längst „Jeder ist sich selbst der Nächste“ geworden. So produziert z.B. der Iran weiter am Limit. Nach den vielen Jahren der Sanktionen braucht das Land jeden Cent für die Kernsanierung seiner zum Industriemuseum gewordenen Volkswirtschaft. Man tut alles dafür, dem Erzfeind Saudi-Arabien Marktanteile in Europa und Asien abzujagen.
Auch Saudi-Arabien als der J.R. Ewing unter den Ölländern ist das Hemd näher als der Opec-Rock. Die auch aus Gründen einer verhaltenen Weltkonjunktur gesunkenen Ölpreise lassen den saudischen Reichtum aus 1000 und einer Nacht oder - profaner ausgedrückt - die Staatseinnahmen nicht mehr so glänzen wie früher.
Gleichzeitig weiß man in Riad natürlich, dass die saudi-arabische Volkswirtschaft dringend auf die Zeit nach der Ölepoche vorbereitet werden muss. Die Elektro-Mobilität wird Ölmotoren mehr und mehr zu Dinosauriern machen, die nur noch auf den Einschlag des Meteoriten warten. Und früher oder später sind die hohen Sozialleistungen, die Saudi-Arabien als Fixkosten zahlt, um das Volk bei guter Laune zu halten, auch immer weniger aus der Öl-Portokasse zu bestreiten. Da ist der saudische Wunsch groß, Preisnachteile durch Mengenvorteile auszugleichen. Immerhin hat man ja die geringsten Ölförderkosten der Welt. Besser früher als später sollte man also rausholen, was rauszuholen ist. Öl wird gepumpt bis die Pipelines glühen.
Insgesamt ist für preissteigernden gemeinnützigen, also Opec-freundlichen Corpsgeist kein Platz mehr. Allerdings betreiben die eigennützigen Mitglieder im Ölförderverein eine andere Art von „Gemeinschaft“. Ihr kollektiver Masochismus erinnert mich an Freilandhühner, die sich gemeinsam für Käfighaltung stark machen: Diese allgemeine Disziplinlosigkeit macht sie individuell unfrei.
Der saudische Kampf gegen Fracking entspricht dem Kampf Don Quijotes gegen Windmühlen
Zweitens, sicherlich hat die saudische Strategie, konventionelle Ölförderung bis Oberkante Unterlippe zu betreiben, auch die Absicht, dem unkonventionellen „Fracking“ über Ölpreisdumping den Garaus zu bereiten. Doch hat diese alternative, vor allem US-amerikanische Ölfördermethode hohen strategischen Wert. Nach dem Zusammenbruch der Immobilienblase 2008 hat Amerika seinen wirtschaftlichen „Vietnam-Effekt“ erlitten. Die USA fühlten sich plötzlich angreifbar und hatten panische Angst davor, andere Länder wie China könnten ihnen den allmächtigen Weltmachtthron streitig machen. Seitdem setzt Amerika wie ein aufgescheuchtes Huhn alles daran, ökonomisch stark und unabhängig zu sein. Dazu gehört auch die energieseitige Freiheit über Fracking. An dieser unkonventionellen Alternativfördermethode werden die USA selbst bei massiv fallenden Ölpreisen festhalten wie Hunde am Knochen. Und dazu gehört es dann ebenso, dass in Not geratene Anleihen von Fracking-Unternehmen zur Not von Fed-Chefin Janet Yellen in Watte gepackt werden. Die Fed hat schon immer eher eine staats- und konjunkturtragende Geldpolitik betrieben. Sie war immer die Notenbank, die sich warmherzig - fast Mutti-haft - einmischt. Und so würde auch bei der finanzpolitischen Heilung der heimischen Energiebranche das Motto gelten: Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.
Und sollten jemals die Ölpreise bei konventionellem Öl - warum auch immer - steigen, wird Fracking so richtig attraktiv. Dann geht man konventionellem Öl unkonventionell fremd: Bei Preisen ab ca. 50 US-Dollar pro Barrel aufwärts wird die Gewinnschwelle erreicht. Im Übrigen handelt es sich bei Fracking um eine noch junge Industrie, mit der sich über technische Quantensprünge selbst bei noch schwächeren Ölpreisen Geld verdienen lässt.
Gleichzeitig heißt das aber auch, dass Fracking und nicht mehr die Opec den Ölpreis festlegt. Die Gewinnschwelle der Fracking-Industrie ist das Maß aller Ölpreise.
Den Tiger kann man zwar noch tanken, aber brüllen kann er nicht mehr
Egal was die Opec macht und tut, ihre machtvollen Glanzzeiten und ihre früher einzigartige Bedeutung für den Ölpreis sind für immer vorbei. Energiekrisen wie 1973 oder 1979 - als die Industrienationen panische Angst vor dem Zusammenbruch ihrer Volkswirtschaften und galoppierender Inflation hatten - kann sie heute nicht mehr auslösen. Der früher brüllende Tiger ist heute als Bettvorleger geendet.
Ölpreise auf dreistelligem Niveau werden wir nicht mehr ansatzweise sehen. Vor der heutigen Opec müssen wir genauso wenig Angst haben wie Kinder vor dem Gespenst unter dem Bett.
VOLKSWIRTSCHAFTLICHE PROGNOSEN AUF EINEN BLICK
KAPITALMARKT AUF EINEN BLICK
Robert Halver, Leiter Kapitalmarktanalyse der Baader Bank AG
Rechtliche Hinweise/Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenskonflikten der Baader Bank AG:
http://www.baaderbank.de/disclaimer-und-umgang-mit-interessenskonflikten/
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