Kommentar
11:55 Uhr, 21.03.2014

Türkei: Im Auge des Orkans- Rezession möglich

Die Türkei vereint all jene wirtschaftlichen und politischen Probleme und Schwächen auf sich, die in den letzten paar Jahren zum unterdurchschnittlichen Abschneiden von Schwellenländerwerten geführt haben. Damit ist das Land am Bosporus ein Paradebeispiel für all das, was in der aufstrebenden Welt falsch gelaufen ist. Wir skizzieren hier die fünf größten Probleme.

Erstens: Das Wirtschaftswachstum ist überwiegend kreditgetrieben. Im Durchschnitt lag das Kreditwachstum in den vergangenen zehn Jahren bei 40 Prozent. Wenn es auch inzwischen gesunken ist, so übersteigt es immer noch 30 Prozent. Mit einem Anstieg der Inlandsverschuldung im Verhältnis zum BIP um 25 Prozentpunkte seit der Krise von 2008 zählt die Türkei zu den Ländern mit den höchsten Zuwachsraten bei der Verschuldung. Nur China, Malaysia und Thailand stehen schlechter da.

Zweitens: Hohe Kapitalzuflüsse beschleunigten das exzessive Kreditwachstum. Je mehr die Zentralbanken in den entwickelten Ländern ihre Geldpolitik lockerten und schließlich sogar zu einer quantitativen Lockerung übergingen, desto stärker war die Türkei auf ausländisches Kapital angewiesen. Die Loan-to-Deposit-Ratio kletterte von 73 Prozent im Jahr 2007 auf 120 Prozent in 2013. Das lag in erster Linie daran, dass die Banken die dramatische Ausweitung ihres Kreditgeschäfts nicht über das inländische Sparvermögen, sondern durch Auslandsverschuldung finanzierten. Hinzu kommt, dass die Türkei ihr immenses Leistungsbilanzdefizit (9,7 Prozent bei seinem Höchststand im zweiten Halbjahr 2011) jahrelang über ausländische Kapitalzuflüsse finanzieren konnte.

Drittens führten das hohe kreditgetriebene Wachstum und die bequemen Kapitalzuflüsse aus dem Ausland zu einer dramatischen Verschärfung der volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte. Dabei stechen vor allem das Leistungsbilanzdefizit und die Inflationsrate hervor, die in den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich 6 bzw. 8 Prozent lagen. Zudem fiel die Arbeitslosenquote auch in den Boom-Jahren nie unter 8 Prozent. Das deutet auf eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit hin, die geradezu nach entschlossenen politischen Maßnahmen schreit.

Viertens kann die Geldpolitik der Türkei als missglückt beschrieben werden. Die Zentralbank hat Mühe, mit der Entwicklung mitzuhalten; bereits seit Jahren verfehlt sie ihr Inflationsziel. Derzeit hofft man, den Zielwert von 5 Prozent bis Ende 2015 zu erreichen. Im Januar sah sich die Zentralbank zu einer Anhebung der Zinsen gezwungen, um einen Zusammenbruch der Währung zu verhindern, doch zwei Monate später beträgt das Kreditwachstum immer noch 30 Prozent und die Inflation 8 Prozent. Gleichwohl gewannen wir bei unseren Gesprächen mit Zentralbankvertretern in Ankara den Eindruck, dass das Direktorium bereits mit dem Gedanken an eine Zinssenkung spielt. Nach Aussagen der Zentralbankvertreter sei die Zinsanhebung im Januar „frontloaded“ gewesen, was möglicherweise als vorgezogene Maßnahme zu verstehen ist.

Gleichzeitig leidet die Türkei unter dem Mangel an Reformen auf der Angebotsseite. Die Ungleichgewichte im Land lassen sich nicht allein durch das weltweite Liquiditätsumfeld erklären, es kommen hier auch grundlegende strukturelle Faktoren ins Spiel. Auf die hohe Arbeitslosigkeit, die im Wege einer Arbeitsmarktreform anzugehen ist, haben wir bereits hingewiesen. Aber auch Inflation und Leistungsbilanzdefizit sind strukturbedingt hoch. Grund sind die hohe Konzentration von Unternehmenseigentum bzw. die starke Abhängigkeit von Energieimporten. Die Oligopole müssen aufgebrochen werden, um den Wettbewerb zu steigern und die Inflation zu senken. Seit Jahren hat die türkische Regierung keine bedeutsamen Mikroreformen mehr durchgeführt. Entschlossener ist sie hingegen dabei vorgegangen, die Abhängigkeit der Türkei von Energieimporten zu verringern. Doch es wird noch viele Jahre dauern, bevor die Investitionen in Wasserkraft und Kernenergie die Importkosten senken.

Insgesamt hat sich die regierende AKP in punkto Reformen nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Offenbar fehlt es der Regierung an einem Sinn für die Dringlichkeit von Reformen – trotz des jüngsten Marktdrucks und der 25%igen Abwertung der Lira. In der Tat ließ Premierminister Erdogan bei verschiedenen Gelegenheiten durchblicken, dass er wenig Bedarf für Wirtschaftsreformen sieht.

Und fünftens ist das politische Risiko gestiegen. Elf Jahre lang AKP hat zu einer Machtkonzentration geführt. Armee, Justiz und parlamentarische Opposition wurden an den Rand gedrängt. Dadurch hat sich nicht nur die Polarisierung im politischen System, sondern auch in der türkischen Gesellschaft verstärkt. Die autokratische Führung Erdogans, die zunehmenden Hinweise auf die Selbstbereicherung der AKP-Führung, zahlreiche Korruptionsskandale und die kontinuierliche Aushöhlung bürgerlicher Freiheiten haben zu wachsendem Unmut in der Bevölkerung geführt. In den Großstädten der Türkei kommt es immer wieder zu blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Ordnungskräften. In diesem Umfeld ist ein entschlossenes Handeln der Politiker, um die immensen Wirtschaftsprobleme anzugehen, kaum mehr zu erwarten.

Wie geht es angesichts dieser fünf Problembereiche also mit der türkischen Wirtschaft weiter? Nach unserem Dafürhalten wird das Land eine Rezession kaum vermeiden können. Der Kapitalstrom in die aufstrebende Welt wird fürs Erste wohl negativ bleiben. Grund sind das anhaltende Schwächeln ihrer Volkswirtschaften, die Ausfallrisiken und die Störungen im Finanzsystem infolge des Schuldenabbaus. Zudem dürfte der Prozess der geldpolitischen Normalisierung in den USA anhalten. Vor diesem Hintergrund kann die Türkei sich nicht darauf verlassen, dass der Kapitalzustrom aus dem Ausland, der ihr Leistungsbilanzdefizit und ihren Kreditboom finanziert hat, anhält. Bislang ist der Nettokapitalzufluss immer noch recht kräftig.

Autor: Maarten-Jan Bakkum, Senior Stratege Emerging Markets bei ING Investment Management

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