Negative Leitzinsen: Es wird ernst
- Lesezeichen für Artikel anlegen
- Artikel Url in die Zwischenablage kopieren
- Artikel per Mail weiterleiten
- Artikel auf X teilen
- Artikel auf WhatsApp teilen
- Ausdrucken oder als PDF speichern
Japan steht möglicherweise vor dem größten geldpolitischen Experiment der Geschichte. Der wahrscheinlich nächste Premierminister Shinzō Abe von der Liberaldemokratischen Partei (LDP) hat sich öffentlich dafür ausgesprochen, die Leitzinsen bis in den negativen Bereich zu senken. Banken müssten dann für Kredite, die sie von der Zentralbank erhalten, keine Zinsen mehr bezahlen, sondern würden für jeden geliehenen Yen sogar zusätzlich Zinsen von der Zentralbank kassieren. Der noch amtierende Premierminister Yoshihiko Noda von der Demokratischen Partei (DPJ) löste am vergangenen Freitag das Unterhaus offiziell auf, um den Weg für Neuwahlen am 16. Dezember freizumachen. In den Umfragen liegt die LDP, die Japan zwischen 1955 und 2009 fast ohne Unterbrechung regiert hat, deutlich vorn.
Mit dem bemerkenswerten Vorschlag negativer Leitzinsen will Abe die japanische Wirtschaft aus der deflationären Rezession befreien, aus der sie sich seit dem Zusammenbruch der Aktien- und Immobilienblase zu Beginn der 1990er Jahre immer nur zeitweise lösen konnte. Abe plädiert auch für eine unbegrenzte quantitative Lockerung, also unlimitierte Anleihenkäufe, um die Wirtschaft anzukurbeln. Die Bank of Japan solle ein Inflationsziel von zwei oder drei Prozent festlegen und dann unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen, bis die Inflation auf den Zielwert gestiegen sei, schlug Abe in der vergangenen Woche vor. Durch die außergewöhnlichen Maßnahmen soll der Yen geschwächt werden, der in den vergangenen Jahren trotz der großen wirtschaftlichen Probleme kräftig aufwertete. Für die stark exportorientierte japanische Wirtschaft ist der starke Yen ein großer Wettbewerbsnachteil. Abe will besonders den mittelständischen japanischen Firmen helfen, ihre Produkte billiger auf dem Weltmarkt zu verkaufen. Im Falle eines Wahlsiegs dürfte Abe auch die Staatsausgaben drastisch erhöht. Mit einer Verschuldungsquote von mehr als 200 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt hat Japan relativ zur Wirtschaftsleistung allerdings schon jetzt die höchsten Staatsschulden aller Industriestaaten.
Die Möglichkeit negativer Leitzinsen steht durchaus auch in den westlichen Industriestaaten auf der Tagesordnung, auch wenn sich Politiker und Notenbanker bisher kaum öffentlich dazu bekennen wollen. Das Thema taugt eher für Hintergrundgespräche und akademische Dispute, nicht aber für öffentlichkeitswirksame Diskussionen. Anders sieht es in Japan aus. Dort ist die seit Jahren nur mit kurzen Unterbrechungen andauernde Deflation auch ein Thema, das viele Japaner umtreibt. Im japanischen Parlament gibt es einen eigenen Anti-Deflations-Arbeitskreis, des sich ebenfalls für weitere unkonventionelle Maßnahmen ausspricht, um in der Wirtschaft endlich wieder für Wachstum zu sorgen. Auch in der japanischen Öffentlichkeit dürfte der Vorschlag Abes durchaus nicht unpopulär sein.
Die Märkte reagierten in der vergangenen Woche sehr stark auf die Neuigkeiten aus Japan. Der Nikkei 225 konnte gegen den weltweiten Abwärtstrend auf ein Zweimonatshoch zulegen. Der Yen sank auf ein Sechsmonatstief gegenüber dem Dollar. Damit entwickelten sich die Märkte in die von der japanischen Politik gewünschte Richtung. Langfristig dürften aber die Gefahren des bisher beispiellosen geldpolitischen Experiments überwiegen. Japan läuft Gefahr, von einer chronischen Deflation praktisch nahtlos in die Hyperinflation zu schlittern. Ob die Zentralbank dann noch rechtzeitig gegensteuern kann, ohne einen vollständigen Kollaps der Wirtschaft zu riskieren, steht in den Sternen.
Auch ohne negative Leitzinsen begünstigt die ultralockere Geldpolitik die Banken. Sie können sich billig Geld von der Zentralbank beschaffen und damit auf Einkaufstour gehen, und zwar bevor die Inflation sich so wirklich gezeigt hat. Wenn der Geldregen in schwächerer Form dann irgendwann auch bei den Industriebetrieben und Verbrauchern ankommt, sind die Preise bereits exorbitant gestiegen. Die Inflationierungspolitik ist nichts anderes als eine versteckte Enteignung der Mittelschicht, die für die Verluste der Banken aus den letzten Krisen haftbar gemacht wird.
Oliver Baron
Keine Kommentare
Die Kommentarfunktion auf stock3 ist Nutzerinnen und Nutzern mit einem unserer Abonnements vorbehalten.