Kommentar
11:40 Uhr, 12.11.2013

Etikettenschwindel bei der Inflation

  • Die niedrige Inflation im Euroraum ist kein Vorbote einer Deflation und auch nicht das Menetekel drohender japanischer Verhält­nisse.
  • Sie ist neben ein paar Sonderfaktoren im Wesentlichen Ausdruck der Austeritätspolitik in den Peripherieländern des Euros.
  • Die Zinssenkung durch die EZB war aus meiner Sicht nicht notwendig. Der Streit über das Thema sollte aber auch nicht hochgekocht werden.

Selten hat die Veröffentlichung einer einzigen Zahl so viel Wirbel aufgeworfen. Ende Oktober wurde bekannt, dass die Preise im Euroraum nur noch um 0,7 % ge­stiegen sind. Es hat gerade einmal eine Woche ge­dauert, bis die Europäische Zentralbank daraufhin ihre Zinsen gesenkt hat. Die Zeitungen waren voll von Be­richten und Kommentaren über Deflationsgefahren. Die Inflationsbefürchtungen, über die im Sommer noch ge­sprochen wurden, schienen wie weggeblasen.

Alles sieht nach einem Paradigmenwechsel aus, von Inflation zu Deflation. Das hätte erhebliche politische, vor allem geldpolitische Konsequenzen. Ich teile diese Auffassung aber nicht. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass diese Diskussion nicht ganz ehrlich ist. Hier wird Etikettenschwindel betrieben.

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Die Verringerung der Inflationsrate ist im Wesentlichen auf drei Effekte zurückzuführen. Das eine ist der Rück­gang der Nahrungsmittelpreise. Sie waren im Sommer witterungsbedingt stark angestiegen. Jetzt normalisieren sie sich, sind aber immer noch 4 % höher als vor einem Jahr. Das hat nichts mit Deflation zu tun. Es ist auch kein Grund, die Zinsen zu senken.

Das zweite ist der niedrigere Ölpreis. Anfang vorigen Jahres kostete Nordseeöl der Sorte Brent noch 125 Dollar je Barrel, jetzt sind es nur noch etwas über 100. Das ist ein Rückgang um über 20 %. Allein das verrin­gert die Geldentwertung um zwei Zehntel Prozentpunk­te.

Auch das ist aber keine Deflation im Sinne von Wachs­tumsschwäche. Es beruht vielmehr auf der Angebots­ausweitung durch die neuen Fördertechniken des Fra­cking und die Entspannung im Iran, die zu mehr Ölex­porten dieses Landes führen wird. Andererseits hat die Nachfrage nach Öl in den Schwellen- und Entwicklungs­ländern nicht mehr so stark zugenommen.

Die sogenannte "Kernrate" der Inflation, also die Rate ohne die Preise von Energie, Nahrungsmitteln, Alkohol und Tabak, lag im Oktober bei 0,8 %. Das ist mehr als die 0,7 %, es ist freilich immer noch sehr niedrig.

Hier kommt der dritte Grund für die geringe Geldentwer­tung ins Spiel. Es ist die Preisentwicklung in den Peri­pherieländern des Euroraums. In Griechenland gingen die Preise im September (neuere Zahlen liegen noch nicht vor) um 1 % zurück, in Irland lagen sie auf Vorjah­resniveau, in Portugal stiegen sie gerade mal um 0,3 %, in Spanien um 0,5 %. Das drückt die Gesamtrate im Eu­roraum. Im Euroraum ohne Deutschland gerechnet, stie­gen die Preise im Oktober lediglich um 0,4 % (jeweils gegenüber Vorjahr) verglichen mit 1,2 % in Deutschland. Deutschland ist nicht mehr Primus bei der Stabilität.

Die niedrige Preissteigerung im Euroraum mag in der Tat sehr niedrig und gefährlich nahe an Deflation schei­nen. Das trügt jedoch. Was wir hier sehen, ist etwas ganz anderes. Es ist nicht Ausdruck einer Wachstums­schwäche oder gar Menetekel japanischer Verhältnisse. Es ist ganz einfach das Ergebnis einer bewusst und gegen viele Widerstände betriebenen Austeritätspolitik. Durch sie sollen die Fehlentwicklungen in einigen Mit­gliedsländern des Euros überwunden werden.

Das ist die berühmte interne Anpassung, die in einer Währungsunion mit festen Wechselkursen die früher möglichen Abwertungen ersetzt.

Lange Zeit hat sich die Konsolidierungspolitik nicht in den Preisen niedergeschlagen, weil Umsatzsteuern und Gebühren erhöht wurden, um die Einnahmen zu stei­gern. Inzwischen ist dieser Effekt ausgelaufen und die Preise reagieren modellgerecht.

Wenn man hier überhaupt von Deflation sprechen will, dann müsste man von einer "gewollten" Deflation reden. Das ist nichts, das man mit Geldpolitik bekämpfen muss. Im Gegenteil muss man es eher fördern, damit die An­passung bald zu Ende geht und man wieder auf Wachs­tum setzen kann.

Objektiv gesehen war die Zinssenkung daher nicht er­forderlich. Sinnvoller wäre es aus meiner Sicht gewesen, wenn die EZB die niedrige Inflation als Zeichen für die fortschreitende Gesundung im Euroraum erklärt und als Ermutigung für die weitere Entwicklung dargestellt hätte. Der Hinweis auf Deflationsgefahren in Europa könnte manchen Investor verunsichern.

Andererseits sollte man den Streit über die Geldpolitik, der in den letzten Tagen entstanden ist, aber auch nicht hochspielen. Ein Viertel Prozentpunkt höhere oder nied­rigere Leitzinsen machen den Kohl nicht fett. Ein frühe­rer Vorstand einer großen Bank sagte mir: Darüber hät­ten wir früher gelacht. Es ist bemerkenswert, dass die langfristigen Zinsen in Spanien und Italien als Folge der Aktion der Europäischen Zentralbank nicht gesunken, sondern im Gegenteil gestiegen sind.

Für den Anleger

Dass die Inflation so stark zurückgegangen ist, ist für die Märkte eine gute Nachricht. Es gibt daher keinen Grund, in Panik zu geraten und Deflation und japanische Ver­hältnisse in Europa zu befürchten. Die Zinssenkung wird auf die Märkte keinen größeren Einfluss haben.

Dr. Martin W. Hüfner, Chefvolkswirt von Assenagon Asset Management S.A.

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